Lehrbuch-Meinung unvollständig: Ein kleiner Schmetterling enthüllt, dass Mimikry auch ganz anders funktionieren kann als bisher gedacht. Denn dieser Bärenspinner tarnt sich als Wespe, setzt dabei aber nicht auf den Abschreckungseffekt. Stattdessen will er damit sein Vorbild täuschen: die Wespen selbst. Denn diese greifen Artgenossen nicht an – und damit auch nicht den kleinen Schmetterling.
Mimikry – die Nachahmung giftiger oder sehr wehrhafter Arten – ist im Tierreich eine verbreitete Strategie. So ahmt beispielsweise eine Schabe in Vietnam die schwarzgelbe Warntracht wehrhafter Laufkäfer nach, Schwebfliegen imitieren Wespen und einige harmlose Schlangen ahmen giftige Verwandte nach.
Gängiger Lehrmeinung nach dient diese Mimikry vor allem der Abschreckung gegenüber Fraßfeinden. Diese Gegenspieler, so die seit rund 150 Jahren etablierte Theorie, lernen aus schlechter Erfahrung beispielsweise mit stechenden Wespen und meiden daher ähnlich aussehende Tiere.
Ein Schmetterling als Pseudo-Wespe
Doch diese Vorstellung stimmt offenbar nicht für alle Fälle von Mimikry – die Theorie ist unvollständig, wie Michael Boppré von der Universität Freiburg und seine Kollegen am Beispiel einiger Bärenspinner herausfanden. Diese tagaktiven Nachtfalter ahmen Wespen nach: Sie sind gelb-schwarz gemustert, haben Wespen-Taillen und ihre Flügel sind transparent und wie bei Wespen gefaltet.
„Insbesondere im Flug sind die Vorbilder und ihre Nachahmer selbst für geübte Augen kaum zu unterscheiden“, sagt Boppré. Für ihn stellte sich deshalb die Frage, warum die Bärenspinner diese nahezu perfekte Imitation entwickelt haben und wen sie damit hinters Licht führen. Denn um Fressfeinde auf Distanz zu halten, genügt auch eine unvollkommene Ähnlichkeit.
Täuschung der Wespen als Ziel
Durch Beobachtungen der Falter in der Natur, kamen die Forscher auf eine verblüffende Antwort auf ihre Mimikry-Frage: Mit dem Wespen-Look wollen die Bärenspinner nicht etwa Vögel täuschen, sondern ihre Vorbilder – die Wespen. Denn diese jagen andere Insekten und damit auch die Bärenspinner. Doch eine angeborene Hemmung verhindert, dass die Wespen dabei andere Wespen angreifen.
Die Falter imitieren demnach die Wespen nicht wegen des Abschreckungseffekts, sondern damit sie von den Wespen für Artgenossen gehalten werden – und somit von Angriffen verschont bleiben. „Diese neue Erklärung mag auf den ersten Blick als kleines Detail erscheinen, aber allein die Idee hat weitgehende Konsequenzen“, betont Boppré.
Lehrbuch muss ergänzt werden
Gängiger Lehrmeinung nach beruht Mimikry auf einem Lerneffekt der Fraßfeinde – weshalb sie auch nur dann funktioniert, wenn die Vorbilder zumindest zeitweise häufiger als ihre Nachahmer auftreten. Die Nachahmer dürfen daher nicht zu häufig werden, was für sie einen Nachteil bedeutet.
Im Fall des Bärenspinners jedoch ist dies nicht der Fall: „Wespen zu imitieren, die ihre Nachahmer angeborenermaßen nicht attackieren, erfordert diesen Preis nicht“, so der Forscher. Die gängige Theorie müsse daher zumindest ergänzt werden. (Ecology and Evolution, 2017; doi: 10.1002/ece3.2586)
(Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau, 28.02.2017 – NPO)