Wider die Theorie: Jeder Mensch trägt rund fünf DNA-Sequenzen im Zellkern-Erbgut, die dort eigentlich nicht hingehören. Denn diese bis zu 1.500 Basenpaare langen DNA-Abschnitte stammen aus unseren Mitochondrien, wie Analysen enthüllen. Demnach werden immer wieder Teile dieser mitochondrialen DNA in das Genom unseres Zellkerns eingebaut – und dieser Transfer hält bis heute an. Dies widerspricht gängiger Lehrmeinung und wirft ein neues Licht auf die Evolution unseres Erbguts.
Jeder Mensch trägt in seinen Zellen zwei Arten von DNA: Der größte Teil unseres Erbguts liegt auf den Chromosomen des Zellkerns und wird von den Eltern an ihre Kinder weitergegeben. Ein kleinerer Teil befindet sich in den Mitochondrien, den Kraftwerken der Zelle. Diese mitochondriale DNA umfasst 37 Gene verteilt auf rund 16.500 Basenpaare und regelt vor allem die Reaktionen, durch die die Mitochondrien das energiereiche Molekül ATP produzieren.
Rätsel um mitochondriale „Ausreißer“
Gängiger Theorie nach bleibt die mitochondriale DNA vollständig von der Zellkern-DNA getrennt und wird nur über die mütterliche Linie vererbt: Die Mutter gibt sie mitsamt der Mitochondrien über die Eizelle an ihre Nachkommen weiter. 2018 jedoch entdeckten Wissenschaftler eine Familie, in der die Mitochondrien-DNA offenbar auch über die väterliche Linie weitergegeben wurde – anders waren die Übereinstimmungen zwischen Kindern und ihren Vätern nicht zu erklären. So jedenfalls dachte man.
Jetzt zeigt sich jedoch, dass dies nicht stimmt – und dass die Erklärung für diese mtDNA-Weitergabe noch überraschender ist. Entdeckt haben dies Wei Wei von der University of Cambridge und ihre Kollegen, als sie das Zellkern-Erbgut von mehr als 66.000 Menschen gezielt auf Einschübe von mitochondrialer DNA hin analysierten. Dass es solche Einsprengsel gibt, ist schon länger bekannt. Allerdings galten sie als Relikt aus der Frühzeit der tierischen Evolution – der Ära, kurz nachdem die ersten Zellen Bakterien in sich aufnahmen und durch eine Endosymbiose erstmals Mitochondrien bildeten.
mtDNA-Einschübe in fast jedem Erbgut
Das überraschende Ergebnis: In der Kern-DNA ihrer Testpersonen identifizierten die Forschenden gut 3.800 mitochondriale DNA-Abschnitte, die zuvor unbekannt und in keinem Referenzgenom erfasst waren. Jeder Mensch trägt demnach im Schnitt 4,7 solcher Einschübe von mtDNA in seinem Zellkern-Erbgut. Die Länge dieser eingefügten Sequenzen reicht von kleinen Schnipseln aus nur 24 Basenpaaren bis zum gesamten mitochondrialen Genom. Kürzere Einsprengsel kommen jedoch häufiger vor als lange, wie das Team feststellte.
Die aus den Zellkraftwerken stammenden DNA-Sequenzen kommen dabei aus allen Teilen des Mitochondrien-Genoms und können in alle Chromosomen eingeschleust werden, wie die Analysen ergaben. Allerdings wurde kein einziger dieser Einschübe mitten in einem proteinkodierenden Gen gefunden. Stattdessen liegen rund 58 Prozent dieser Einschübe in der Nähe der Gene oder in ihren Einstiegs-Sequenzen, der Rest liegt in den zur „Junk“-DNA gehörenden Erbgutteilen.
DNA-Transfer hält bis heute an
Anders als bisher angenommen, handelt es sich bei diesen Einschüben aber keineswegs um uralte, schon bei unseren frühen tierischen Vorfahren transferierte DNA-Sequenzen. Stattdessen müssen 90 Prozent dieser mtDNA-Einschübe erst nach der Abtrennung der menschlichen Spezies vom ihren engsten äffischen Verwandten in den Zellkern gelangt sein, wie die Forschenden ermittelten. Der Großteil dieser Einschübe ist sogar weniger als 100.000 Jahre alt.
Noch erstaunlicher jedoch: Der Erbgut-Vergleich von rund 8.200 Familientrios aus Mutter, Vater und Kind enthüllte, dass auch heute noch immer wieder mitochondriale DNA in den Zellkern gelangt und dort in unser Genom eingebaut wird. Eines von rund 4.000 neugeborenen Kindern trägt demnach solche erst bei ihrer Embryonalentwicklung entstandenen mtDNA-Einschübe im Erbgut. Dieser Transfer kann dabei sowohl in den Keimzellen stattfinden als auch später in nur einzelnen Geweben oder Zellen.
Mechanismus noch unklar
„Wir dachten, all dies passierte vor sehr langer Zeit, bevor sich unsere Spezies entwickelte, aber jetzt haben wir entdeckt, dass dies nicht stimmt“, sagt Seniorautor Patrick Chinnery von der University of Cambridge. Stattdessen findet der Transfer von mtDNA in unser Kern-Erbgut auch heute noch statt. „Es geschieht jetzt, in diesem Moment, dass Teile unseres mitochondrialen Gencodes in das Zellkern-Erbgut eingefügt werden“, sagt Chinnery. Das könnte auch bedeuten, dass der vor Milliarden Jahren mit der Endosymbiose begonnene Prozess noch nicht abgeschlossen ist.
Wie genau der Transfer der DNA von den Mitochondrien in den Zellkern stattfindet, ist noch ungeklärt. Denkbar wäre, dass die mtDNA-Sequenzen bei der Zellteilung versehentlich aus dem Mitochondrien-Erbgut ausgeschnitten wurden und dann durch das Zellplasma in den Kern wandern. Möglich wäre aber auch, dass RNA-Moleküle als Mittler dienen. Diese beim Ablesen der mtDNA produzierte RNA könnte dann im Zuge von DNA-Reparatur-Mechanismen im Zellkern irrtümlich in die Kern-DNA eingebaut werden.
Mehr Einschübe in Krebszellen
Interessant auch: Offenbar erkennt unsere Zellmaschinerie, dass die mtDNA-Einsprengsel nicht zum Kern-Erbgut gehören. Denn durch Anhängen von Methylgruppen verhindert die Zelle, dass die mitochondrialen Gene in der Kern-DNA abgelesen werden und schaltet sie so stumm. Dadurch bleiben diese Einsprengsel für uns meist folgenlos. Allerdings beobachteten Wei und ihre Kollegen, dass das Erbgut von Krebszellen zehnmal häufiger neu entstandene mtDNA-Einschübe in sich trägt als bei den normalen Zellen.
Das könnte darauf hindeuten, dass die normalen Kontrollmechanismen in Tumoren nicht mehr richtig funktionieren und deshalb häufiger Mitochondrien-DNA in den Kern gelangt. Es ist aber auch nicht ausgeschlossen, dass die Einsprengsel zur Entartung der Zellen beitragen, wie die Forschenden erklären. (Nature 2022; doi: 10.1038/s41586-022-05288-7)
Quelle: Nature, University of Cambridge