Erstaunliches Fossil: Ein 66,7 Millionen Jahre alter Vogelschädel stellt bisherige Annahmen zur Evolution der Vögel in Frage. Denn dieser Urvogel hatte bereits einen vollständig beweglichen Schnabel, was bislang als Kennzeichen moderner Vögel galt. Zugleich ist sein Schnabel allerdings noch mit Zähnen besetzt und das Fossil gehört zu einer eher urtümlichen Gruppe der Urvögel. Dies wirft ein ganz neues Licht auf den Vogelstammbaum und die Kieferentwicklung der Vögel, wie Forscher im Fachmagazin „Nature“ berichten.
Als der britische Biologe und glühende Darwin-Anhänger Thomas Huxley im Jahr 1867 die Vögel klassifizierte, teilte er sie nach der Art ihres Schnabels in zwei große Gruppen ein: die Paläognathen (Urkiefervögel) und die Neognathen (Neukiefervögel). Während bei den Paläognathen der Oberkiefer mit dem Schädel verwachsen und somit nicht beweglich ist, können Neognathen sowohl den unteren als auch den oberen Teil ihres Schnabels bewegen.
Fast alle heute lebenden Vögel zählen zu den Neognathen. Ausnahmen bilden Laufvögel wie Strauße, Emus und Nandus sowie die mit ihnen verwandten Steißhühner. Huxley ging davon aus, dass die verwachsene Schnabelform urtümlicher ist und sich moderne Vögel mit beweglichem Kiefer erst später entwickelten.
Rätsel um die Ichthyornithes
„Diese Annahme wurde seither als gegeben hingenommen“, sagt Seniorautor Daniel Field von der Cambridge University in Großbritannien. „Der Hauptgrund dafür, dass sich diese Annahme gehalten hat, ist, dass wir lange keine gut erhaltenen fossilen Vogelgaumen aus der Zeit der Entstehung der modernen Vögel hatten.“ Insbesondere fehlten fossile Kieferknochen für die Ichthyornithes, eine Gruppe früher Vögel, die als ursprüngliche Verwandte sowohl der paläognathen wie der neognathen modernen Vögel galten.
Das hat sich nun geändert: Neue Untersuchungen an einem 66,7 Millionen Jahre alten Fossil belegen, dass auch diese Vogelvorfahren bereits einen beweglichen Schnabel hatten. Entdeckt wurde das Urvogel-Fossil bereits in den 1990er Jahren in einem Kalksteinbruch nahe der belgisch-niederländischen Grenze; erstmals untersucht wurde es 2002. Da es allerdings in Gestein eingeschlossen ist, konnten die Wissenschaftler mit den damals verfügbaren Methoden lediglich beschreiben, was sie von außen sehen konnten.
Später Urvogel mit Zähnen
Mithilfe moderner CT-Scans konnten nun Field, Erstautor Juan Benito und ihre Kollegen erstmals Einblicke ins Innere des steinumhüllten Fossils gewinnen. Dies enthüllte, dass es sich bei diesem kreidezeitlichen Vogel in der Tat um einen Vertreter der Ichthyornithes handelte. Die Forscher gaben der Art den Namen Janavis finalidens. Janavis ist eine Kombination aus dem Namen des römischen Gotts Janus – dem Gott des Anfangs und des Endes – und dem lateinischen Wort „avis“ für Vogel.
Der Artname finalidens („Endzahn“) weist auf ein besonderes Merkmal des fossilen Schädels hin: Obwohl Janavis am Ende der Kreidezeit lebte und daher für einen Urvogel weit entwickelt war, hatte er noch Zähne – ein Merkmal, das mit dem Aussterben der Dinosaurier und Zahnvögel am Ende der Kreidezeit verschwand. Auch Janavis finalidens starb in dieser Zeit aus.
Schon Janavis hatte einen beweglichen Oberkiefer
Als entscheidend erwies sich jedoch ein Knochen, der bei der Erstbeschreibung zunächst als Teil der Schulter klassifiziert worden war. Wie die Analysen nun zeigten, wies er stattdessen erstaunliche Ähnlichkeit zum Pterygoid-Knochen eines Truthahns auf – zu dem Knochen, der diesem Vogel seinen beweglichen Oberkiefer verleiht. „Zufällig hatten wir Truthahnschädel in unserem Labor. Also holten wir einen heraus und stellten fest: Die beiden Knochen waren fast identisch“, so Benito.
Dies belegt, dass schon die kreidezeitliche Vogelvertreter aus der Gruppe der Ichthyornithes einen beweglichen Oberkiefer besaßen – und damit das Schlüsselmerkmal für den Großteil der modernen neognathen Vögel. „Der bemerkenswert geflügelähnliche Pterygoid-Knochen von Janavis sowie Hinweise eines ebenfalls Neognath-ähnlichen Gaumens bei einem Ichthyornis-Fossil widerlegen die Hypothese, dass die Kieferform der modernen Vögel auf paläognathe Vorfahren zurückgeht“, konstatieren Benito und seine Kollegen.
Moderner Schnabel vor modernen Vögeln
Der bisher gängige Stammbaum der Vögel muss demnach zumindest in Bezug auf dieses Merkmal umgeschrieben werden. Demnach repräsentieren die schon mit einem beweglichen Oberkiefer ausgestatteten Ichthornithes die ursprüngliche Form. Als sich dann im weiteren Verlauf der Evolution die neognathen und paläognathen modernen Vögel entwickelten, behielten die Neognathen diesen beweglichen Oberkiefer bei. Die Laufvögel und andere moderne paläognathe Vogelarten dagegen entwickelten nachträglich den scheinbar urtümlicheren verwachsenen Kiefer.
„Die Evolution verläuft nicht geradlinig“, sagt Field. „Dieses Fossil zeigt, dass der bewegliche Schnabel – von dem wir immer dachten, er sei erst nach der Entstehung der modernen Vögel entstanden – sich tatsächlich schon vor der Existenz der modernen Vögel entwickelt hat. Wir waren mit unseren Annahmen über die Entwicklung des modernen Vogelschädels seit über einem Jahrhundert völlig auf dem Holzweg.“ (Nature, 2022, doi: 10.1038/s41586-022-05445-y)
Quelle: Nature, University of Cambridge