Immer der Nase nach: Heringsmöwen folgen ihrem Geruchssinn, um über tausende Kilometer ihr Winterquartier zu finden. Fehlt ihnen dieser Sinn, können sie Abweichungen von ihrer natürlichen Flugroute nicht mehr korrigieren, wie ein internationales Forscherteam mit Hilfe von GPS-markierten Möwen herausgefunden hat. Der als wichtig geltende Magnetsinn ist für diese Zugvögel dagegen eher unbedeutend, beschreiben die Forscher im Magazin „Nature Scientific Reports“.
Zugvögel sind Meister der Navigation über lange Strecken. Zwischen ihren Sommer- und Winterquartieren liegen oft tausende Kilometer. Dennoch finden die Vögel ihre Flugrouten mit großer Präzision. Wie genau sie diese Leistung vollbringen, ist noch nicht restlos geklärt. Fest steht aber, dass die Navigation aus zwei Teilen besteht: Zum einen müssen die Vögel wissen, wo sie sich befinden. Anschließend müssen sie herausfinden, in welche Richtung sie fliegen müssen.
Magnetsinn, Landmarken oder Geruch?
Für diese beiden Aufgaben benutzen die Vögel möglicherweise unterschiedliche Sinne. Um die Richtung zu bestimmen, setzen viele Arten einen empfindlichen inneren Magnetkompass ein. Diesen eichen sie vermutlich anhand des Sonnenuntergangs, der immer in westlicher Richtung liegt. Entgegen der weit verbreiteten Annahme nutzen Vögel diesen Kompass nicht, um ihre Position zu bestimmen. Denn ob das Magnetfeld der Erde auch eine genaue Ortsbestimmung zulässt, ist noch strittig. Viele Jungvögel prägen sich auch auf ihrem ersten Flug typische Landmarken wie Berge oder Küstenlinien ein, denen sie folgen.
Seit einigen Jahren mehren sich außerdem die Hinweise darauf, dass Vögel ihren Geruchssinn zur Positionsbestimmung nutzen. Wie wichtig dieses Sinnesorgan ist, haben Forscher unter der Leitung von Martin Wikelski vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in München nun genauer untersucht. Dazu verfolgten sie die Reise von knapp 120 Heringsmöwen entlang ihrer gesamten Flugroute. Die Heringsmöwen fliegen normalerweise von Russland und Finnland aus Strecken von bis zu 7.500 Kilometern, um am Viktoriasee in Afrika zu überwintern.
Vogelwanderung von unbekanntem Start
Die Wissenschaftler wollten wissen, ob die Vögel auch ohne ihren Geruchs- und Magnetsinn ans Ziel finden. Sie durchtrennten deshalb bei einem Teil der Vögel unter Narkose die Geruchsnerven, bei einem anderen Teil den Trigeminusnerv, der angeblich für die Wahrnehmung des Erdmagnetfelds erforderlich ist. Diese Nerven wachsen nach wenigen Monaten wieder zusammen, so dass die Navigationsfähigkeit der Tiere nicht dauerhaft beeinträchtigt ist.
Anschließend brachten die Forscher die mit GPS-Sendern ausgestatteten Zugvögel an einen den Tieren unbekannten Startort. Die Möwen aus Finnland starteten von der Nordseeinsel Helgoland, die Vögel aus dem russischen Solovki ließen die Forscher bei der Stadt Kasan an der Wolga frei. Beide Startpunkte liegen etwa 1.250 Kilometer vom eigentlichen Ausgangspunkt der Vögel entfernt.
Geruchssinn zur Korrektur der Flugroute
Die Flugdaten zeigen, dass die Heringsmöwen auch von Helgoland aus zum Viktoria-See finden. Dafür brauchen sie jedoch ihren Geruchssinn: Möwen mit durchtrenntem Geruchsnerven beendeten ihre Reise zu weit westlich in Zentralafrika. „Ohne ihre Nase merken sie offenbar nicht, dass sie weiter westlich als üblich gestartet sind“, erklärt Wikelski. „Während die unbehandelten Vögel diesen Versatz durch einen zeitweise nach Osten gerichteten Flug kompensieren, können dies die Tiere ohne Geruchssinn nicht.“
Eine Analyse der Flugroute ergab, dass die versetzen Möwen ihre Flugrichtung immer dann nach Osten korrigierten, wenn ihr Geruchssinn funktionierte und sie „eine Nase voll Duft“ von Orten aus ihrer üblichen Zugroute bekamen. Sie nutzten also nicht prägnante Wegmarken, wie beispielsweise die afrikanische Mittelmeerküste, um ihren Flug neu auszurichten.
Welchen Gerüchen die Vögel dabei folgten, wissen die Forscher noch nicht. Klar ist nur: „Die Gerüche müssen mindestens 300 Kilometer weit durch die Luft übertragen werden“, sagt Wikelski. „Einzelne Geruchsposten auf der Route wie das Schwarze Meer oder das Nil-Delta geben wohl die grobe Flugrichtung vor.“ Den Magnetsinn benötigen die Heringsmöwen dagegen offenbar nicht: Auch mit durchtrenntem Trigeminusnerv fanden sie ihr Ziel ebenso sicher wie die unbehandelten Artgenossen.
In vertrauter Landschaft auch ohne Geruch zum Ziel
Zur Verwunderung der Wissenschaftler fanden alle Vögel von Kasan aus das Ziel – auch ohne ihren Geruchssinn. Im Unterschied zu den von Helgoland gestarteten Möwen änderten hier auch die Tiere mit durchtrennten Geruchsnerven ihre Flugrichtung entsprechend. „Unsere Daten zeigen, dass Kasan gar nicht außerhalb des natürlichen Flugkorridors der Heringsmöwen liegt, wie wir dachten, sondern innerhalb“, sagt Wikelski. „Die Vögel kannten deshalb die Route und orientierten sich an vertrauten Punkten der Landschaft ohne ihren Geruchssinn.“
„Dass sich die Möwen auf ihren Geruchssinn verlassen, war für uns eine große Überraschung“, fasst der Forscher zusammen. „Zwar vermutet man aufgrund theoretischer Navigationsmodelle schon länger, dass sich die Navigationsleistungen vieler Zugvögel und Meeressäuger nur durch den Geruch erklären lassen. Trotzdem war diese These bis vor kurzem höchst umstritten.“ Welche Rolle das Erdmagnetfeld und andere Navigationssysteme wie die Sterne für die Navigation beim Vogelzug spielen, ist immer noch weitgehend unklar. (Nature Scientific Reports, 2015; doi: 10.1038/srep17061)
(Max-Planck-Gesellschaft, 25.11.2015 – AKR)