Eine Studie eines internationalen Wissenschaftlerteams hat ein neues Licht auf die Evolution des Gehirns geworfen. Wie die Forscher in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift „Proceedings of the National Academy of Sciences“ (PNAS) berichten, ließ höchstwahrscheinlich mütterliche Zuwendung die Säugetierhirne wachsen.
Ein großes Hirn kann Großes leisten: Wenn eine Tierart über ein besonders großes Gehirn verfügt, ist dies in der Regel ein Hinweis auf hohe Intelligenz oder Geschicklichkeit, etwa bei der Nahrungssuche. Zu diesen privilegierten Arten zählen vor allem Säugetiere. Neben den Primaten, darunter auch der Mensch, zeichnen sich auch Zahnwale sowie Wölfe, Füchse und Hunde durch ein besonders großes und leistungsfähiges Denkorgan aus. Doch warum konnte sich gerade bei diesen Tieren das Gehirn so ausgeprägt entwickeln?
Kängurus und Affen im Vergleich
Die Biologinnen um Vera Weisbecker und Anjali Goswami von der Universität Jena haben zusammen mit Kollegen der University of Cambridge die Hirngröße von knapp 200 Beuteltierarten, zum Beispiel Kängurus und Koalas, und mehr als 400 Plazentatierarten, darunter Affen, Nage- und Huftiere, verglichen.
„Beide Gruppen gehören zu den Säugetieren, sind aber nur weitläufig miteinander verwandt und haben im Laufe der Evolution unabhängig voneinander relativ große Gehirne entwickelt“, erläutert Weisbecker.
Mütterliche Zuwendung entscheidend für großes Gehirn
Die entscheidende Rolle für die Entwicklung eines großen Hirns, so das Ergebnis der aktuellen Studie, spiele die mütterliche Zuwendung. „Je länger der Nachwuchs im Mutterleib heranreifen kann oder von seiner Mutter gesäugt wird, desto größer und leistungsfähiger kann sein Gehirn werden“, unterstreicht Weisbecker.
Bisher vermuteten Forscher, dass eine hohe Stoffwechselaktivität ebenfalls ein wichtiger Faktor in der Evolution eines großen Gehirns ist. „Dieser Faktor stimmt aber nur teilweise“, so die Biologin, die sich auf die Hirnentwicklung verschiedener Säugetierarten spezialisiert hat. Eine erhöhte Stoffwechselaktivität des Gehirns hänge demnach nur bei Plazentatieren mit größeren Hirnen zusammen, während die Säugedauer und Anzahl der Jungen pro Wurf für beide Gruppen wichtig sei.
Rolle des aktiven Stoffwechsels unklar
Die Forscherinnen vermuten, dass ein aktiver Stoffwechsel bei Plazentatieren nur deshalb mit der Hirngröße korreliert, weil deren Junge lange über die Plazenta direkt an den Stoffwechsel ihrer Mutter angeschlossen sind und somit von einem aktiveren Stoffwechsel eher profitieren können. Diese direkte Übertragung von Nährstoffen könnte auch der Grund dafür sein, dass Plazentatiere wesentlich kürzere mütterliche Zuwendungszeiten haben als Beuteltiere, bei denen die Plazenta meist nur für wenige Tage ausgebildet ist.
„Dazu passt, dass Primaten, zu denen auch der Mensch gehört, die einzigen Plazentatiere sind, die ähnlich lange mütterliche Zuwendungszeiten wie Beuteltiere haben – ihre vergleichsweise riesigen Gehirne könnten das notwendig machen“, vermutet Weisbecker.
Gehirn von Beuteltieren größer als gedacht
So ganz nebenbei räumten Weisbecker und Goswami auch mit einem hartnäckig verbreiteten Vorurteil auf: Beuteltiere hätten ein besonders kleines Gehirn. Das Gegenteil sei der Fall, denn kleinere Beuteltiere besitzen im Durchschnitt sogar verhältnismäßig große Gehirne. Das bisherige Missverständnis beruhe vor allem darauf, dass die Primaten mit ihren sehr großen Gehirnen die durchschnittliche Hirngröße von Plazentatieren größer erscheinen lasse, als sie tatsächlich sei.
(idw – Universität Jena, 09.09.2010 – DLO)