Archäologie

Neandertaler misshandelten ihre Toten

Ritual oder Kannibalismus könnten Grund für rätselhafte Leichenschändungen sein

Postmortale Schnittspuren auf den Oberschenkelknochen des Neandertaler-Kindes © M.D. Garralda et al.

Nicht gerade pietätvoll: In Frankreich haben Archäologen Neandertaler-Überreste entdeckt, die nach dem Tod systematisch zerstückelt und geschlagen wurden. Auch von anderen Fundstellen in Europa sind solche posthumen Misshandlungen bekannt. Ob dies als Teil eines Rituals geschah oder es von Kannibalismus unter den Neandertalern zeugt, ist bisher allerdings rätselhaft.

Lange Zeit war umstritten, ob die Neandertaler ihre Toten in besonderer Weise bestatteten oder sie einfach irgendwo ablegten. Doch in den letzten Jahren häuften sich die Hinweise auf echte Begräbnisse, vor allem durch Funde im französischen La Chapelle-aux Saints. Dort liegen die Skelette in Gruben, die vermutlich eigens für ihre Bestattung gegraben wurden, um sie vor Tieren und der Witterung zu schützen.

Doch eine neue Analyse von Funden in der Nähe von Marillac-le-Franc im Südwesten Frankreichs werfen nun ein anderes Licht auf die Bestattungs-Gepflogenheiten der Eiszeitmenschen. María Dolores Garralda von der Universität von Bordeaux und ihre Kollegen untersuchten die Knochen von zwei Neandertaler-Erwachsenen und einem Kind, die vor rund 57.000 Jahren an diesem Ort lebten.

Klare Spuren postmortaler Gewalt

Dabei stießen die Forscher auf mehrere Verletzungen und Schäden, die den Toten kurz nach dem Tod zugefügt worden sein mussten. Am Oberschenkelknochen des bei seinem Tod etwa zehnjährigen Kindes entdeckten die Forscher deutliche, eng nebeneinander liegende Schnittspuren, außerdem postmortale Brüche.

„Die Morphologie der Brüche deutet darauf hin, dass der Körper dieses Kindes kurz nach dessen Tod manipuliert worden ist“, sagt Garralda. „Das rechte Bein erhielt eine Reihe von Schlägen, die den Femur brachen und die Schnitte sind eindeutig menschengemacht – diese Spuren stammen nicht von Tieren.“ Auch an den Knochen der beiden Erwachsenen fanden die Wissenschaftler ähnliche Spuren der postmortalen Misshandlung – Schnitte und Schlagverletzungen.

Wie die Forscher erklären, ist dies nicht das erste Mal, dass man an Neandertaler-Fundstellen Indizien für gezielte Verletzung oder Zerstückelung von Leichen findet. Auch an anderen Orten in Europa sei ähnliches bereits aufgefallen. „Einige Neandertaler-Gruppen schnitten oder rissen die Leichen von Kindern und Erwachsenen kurz nach deren Tod in Stücke“, wie Garralda erklärt.

Zeugnis von Kannibalismus?

Aber warum? Welchem Zweck diese Misshandlungen dienten, ist bisher rätselhaft. „Es könnte sich um Rituale gehandelt haben – so etwas gibt es selbst heute noch in einigen Regionen der Erde“, meint die Forscherin. „Aber es könnte sich von Kannibalismus zeugen – als Teil der Kultur oder schlicht aus Notwendigkeit.“

Zumindest Letzteres erscheint in Marillac-le-Franc aber eher unwahrscheinlich, denn neben den Neandertaler-Relikten finden sich dort reichlich Tierknochen, was nicht gerade auf eine Hungersnot hindeutet.“Bisher ließ sich auch nicht belegen, dass die Neandertaler Menschenfleisch gegessen haben – obwohl dies in einigen modernen Menschen-Populationen durchaus vorgekommen ist“, so Garralda.

…oder von einem Ritual?

Von einigen Kulturen kennt man Totenrituale, bei denen Leichen zerstückelt und in Einzelteilen bestattet wurden. So entdeckten Archäologen vor einigen Jahren in den USA rund 1.500 Jahre alte Gräber eines Indianerstammes, in denen die Übereste der Toten zwar mit vielen Grabbeigaben bestattet worden waren. Die Knochen waren jedoch absichtlich zertrümmert, außerdem enthielten die Gruben nur die Gliedmaßen und Schädel, der Rest der Skelette fehlte.

Auch einige prähistorische Grabfunde in Europa deuten auf postmortale Manipulationen im Rahmen von ausgedehnten Totenritualen hin. Teilweise wurden dabei gezielt die Knochen aus dem Körper gelöst und dann nur diese bestattet. Ob allerdings die Neandertaler bereits solche komplexen Formen der Rituale besaßen, bleibt offen. (American Journal of Physical Anthropology, 2015, doi: 10.1002/ajpa.22557)

(Plataforma SINC, 15.04.2015 – NPO)

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