Wie regenerationsfähig ist das Gehirn eines erwachsenen Menschen? Die Antwort auf diese Frage war bisher unklar. Jetzt haben Wissenschaftler gezeigt, dass nach einer Verletzung des Gehirns die umgebenden Nervenzellen vorübergehend wieder jung werden: Bis zu einem Jahr lang lassen sich Prozesse einer „Neuverdrahtung“ beobachten. Detaillierte Daten über den Zeitverlauf, das Ausmaß und die Möglichkeiten und Grenzen dieser überraschend großen Plastizität des Gehirns sind in der aktuellen Ausgabe der „Proceedings of the National Academy of Sciences“ (PNAS) veröffentlicht.
Wie plastisch ist das erwachsene Gehirn?
Jeder weiß, dass frühkindliche und jugendliche Gehirne sehr flexibel sind. „Sie besitzen ohne Zweifel die Fähigkeit zur leichteren Anpassung“, erklärt Prof. Dr. Ulf T. Eysel von der medizinischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum (RUB), der gemeinsam mit Dr. Dimitrios V. Giannikopoulos die Studie durchführte. „Nach Verletzungen und bei Erkrankungen des Nervensystems ist die Kapazität für eine Rehabilitation durch eine Reorganisation dann vergleichsweise groß.“
Wie es damit im Gehirn Erwachsener steht, ist dagegen nicht so klar. Trotz vieler Ergebnisse, die die Plastizität des erwachsenen Gehirns gezeigt haben, gaben neuere Befunde mit modernen bildgebenden Methoden auch Hinweise, dass die Kapazität zur Reorganisation beim Erwachsenen sogar verschwindend gering sein könnte.
Neu-Verdrahtung breitet sich wellenförmig aus
Um die Fähigkeit zur Reorganisation des erwachsenen Gehirns exakt zu bestimmen, maßen Giannikopoulos und Eysel die Aktivität von einzelnen Nervenzellen der Sehrinde erwachsener Katzen. Nach umschriebenen Schädigungen der Netzhaut erfolgt innerhalb von Wochen bis zu einem Jahr eine weitreichende Umorganisation der Sehrinde. Die erblindeten Gehirnbereiche werden wieder aktiviert, die Zuordnung von Auge und Gehirn erfährt eine grundsätzliche Neuordnung.
{1l}
„Die Neu-Verdrahtung wandert ähnlich einer Welle langsam über Wochen vom gesunden Randbereich immer weiter in die ‚erblindete’ Gehirnregion“, erklärt Giannikopoulos. Die betroffenen Nervenzellen ähneln vorübergehend in einzelnen Eigenschaften den Zellen im frühen Leben nach der Geburt. Die nach der Schädigung zuerst „blinden“ Zellen werden mit ungeschädigten Netzhautbereichen neu verbunden. Dabei sind sie überaktiv, haben große Reizareale („rezeptive Felder“) und ihre Analyseleistungen sind stark vermindert.
Erstaunlich plastisch und doch begrenzt
Nach der Neuverdrahtung normalisieren sich die Zellen, erhalten wieder rezeptive Felder normaler Größe und gewinnen ihre Analyseleistungen – wenn auch zum Teil abgeschwächt – zurück. Die Zahl der an der Neuverdrahtung beteiligten Zellen im geschädigten Gebiet liegt je nach Entfernung vom gesunden Randbereich zwischen zehn und fast 100 Prozent. „Die Arbeit bestätigt mit neuen Einzelheiten zum Verlauf über lange Zeit, dass die Plastizität des erwachsenen Gehirns eine erstaunliche grundsätzliche Kapazität aufweist, dass die Wiederherstellung von Funktionen jedoch in ihrer Reichweite und im Ausmaß der wiedererlangten Analyseleistungen gegebenenfalls von Strukturvoraussetzungen des Gehirns begrenzt werden“, fasst Eysel zusammen.
Später Reorganisationsschub
Neben den neuen Erkenntnissen über den Zeitverlauf und das Verhalten der Zellen während der Umverdrahtung ist die Entdeckung einer späten Komponente im Reorganisationsprozess, die erst zwischen drei Monaten und einem Jahr abläuft, für die Forscher hochinteressant. In dieser späten Phase erhöhte sich die Zahl der an der Reorganisation beteiligten Zellen tief im geschädigten Bereich noch einmal von zehn bis 20 auf 40 bis 50 Prozent. Dieser Befund unterstreicht, daß zusätzlich zu den bekannten, guten Erfolgen der Frührehabilitation eine weitere Verbesserung und Stabilisierung in späteren Phasen nach einer Schädigung des Gehirns erfolgt.
(Ruhr-Universität Bochum, 05.07.2006 – NPO)