Verblüffender Fund: Bei Kleinzikaden haben Forschende ein neues Sinnesorgan entdeckt, das offenbar jahrzehntelang übersehen worden ist. Es handelt sich um sechs Paare erstaunlich komplexer Organe zur Wahrnehmung von Vibrationssignalen, die im Hinterleib der Insekten sitzen. Sie umfassen gut 400 Sinneszellen, feine Membranen und verstärkte Teile des Exoskeletts. Dies wirft ein neues Licht auf die Evolution der Zikaden-„Ohren“.
Anders als die großen, durch ihr lautes Zirpen bekannten Singzikaden sind die Kleinzikaden weniger auffällig und bekannt, aber umso zahlreicher: Fast 40.000 Arten umfassen diese oft bunt gefärbten, meist wenige Millimeter kleinen Insekten, die auch in unseren heimischen Parks und Gärten zuhauf vorkommen. Anders als ihre größeren, lauteren Verwandten kommunizieren die Kleinzikaden nicht über Schall, sondern über Vibrationen, die sie durch ihre Futterpflanze an Artgenossen senden.
Wegen dieser eher wenig subtilen Art der Kommunikation, nahmen Biologen bisher an, dass die Kleinzikaden ihre Vibrationssignale mit simplen, aus nur wenigen Sinneszellen aufgebauten Organen in den Beinen wahrnehmen – ähnlich wie fast alle Insekten.
Sechs Paare komplexer Sensororgane
Doch das war ein Irrtum, wie nun Sarah Ehlers vom Zentrum für Integrative Biodiversitätsentdeckung des Museums für Naturkunde in Berlin und ihre Kollegen feststellen mussten. Für ihre Studie hatten sie die Anatomie der Rhododendronzikade (Graphocephala fennahi) mithilfe mikroskopischer Verfahren und speziellen Anfärbungen von Nervenstrukturen untersucht.
Das überraschende Ergebnis: „Wir haben herausgefunden, dass Kleinzikaden ein Sinnesorgan im vorderen Bereich des Hinterleibs besitzen, welches im Verhältnis zu solch kleinen Insekten außergewöhnlich groß ist und aus bis zu 400 Sinneszellen besteht“, berichtet Ehlers. „Die Chordotonal-Organe der Rhododendronzikade sind in Bezug auf die Größe des Insekts extrem groß und komplex.“
Die als Chordotonal-Organ bezeichneten Sensoren liegen zu zweit oder viert in den ersten Halbsegmenten des Abdomens und sind teilweise mehr als 500 Mikrometer groß. Die sechs Paare dieser Vibrationssensoren sind jeweils unterschiedlich geformt und bilden ein ausgeklügeltes System aus feinen Membranen und verstärkten Teilen des Exoskeletts, wie 3D-Modelle der Sinnesorgane enthüllten.
Wichtig für die Unterscheidung
Umso erstaunlicher sei es, dass diese Organe bisher unentdeckt geblieben seien, zumal das gleich danebenliegende Organ zur Signalerzeugung vielfach untersucht und beschrieben wurde, so das Team. Sie vermuten, dass die Kleinzikaden ein so komplexes System von Vibrationssensoren entwickelt haben, um die Signale ihrer Artgenossen von natürlichen Vibrationen unterscheiden zu können.
„Kleine, auf Pflanzen lebende Insekten müssen zwischen mechanischen Wellen verschiedener Richtungen und Ursachen wie dem Wetter, Räubern oder Artgenossen unterscheiden können“, erklären Ehlers und ihre Kollegen. „Vielleicht waren die gängigen Bein-Vibrationssensoren, die alle Insekten besitzen, dafür nicht ausreichend und deshalb haben die Zikaden aufwendigere mechanosensitive Organe dafür entwickelt.“
Neuer Einblick in die Zikaden-Evolution
Die Entdeckung der Chordotonal-Organe wirft auch ein neues Licht auf die Evolution der Zikaden. Denn diese Sensoren könnten ein für diese Insektengruppe ursprüngliches Merkmal sein, aus dem sich dann später auch das noch komplexere Tympanalorgan der Singzikaden entwickelt hat. Dieses befähigt sie auch zum Hören von Luftschall. Weil beide Organtypen in Lage und Struktur zahlreiche Übereinstimmungen zeigen, vermuten die Forschenden eine Entwicklung von der einfacheren Vibrationswahrnehmung hin zur komplexeren und evolutionär fortgeschritteneren Schallwahrnehmung der Zikaden.
Gleichzeitig bietet die Neuentdeckung auch Ansatzpunkte für die biologische Schädlingsbekämpfung, wie Ehlers und ihre Kollegen erklären. Denn Kleinzikaden saugen nicht nur Pflanzensaft und können so Schaden anrichten, sie übertragen auch die Erreger vieler Pflanzenkrankheiten auf Nutzpflanzen. Die Kenntnis der Chordotonal-Organe könnte es nun ermöglichen, die Insekten effektiver durch Störsignale abzuschrecken oder von der Paarung abzuhalten. (Royal Society Biology Letters, 2022; doi: 10.1098/rsbl.2022.0078)
Quelle: Museum für Naturkunde – Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung