Die Rippenqualle Mnemiopsis leidyi gehört zu den gefürchteten „Invasoren“ – eingeschleppten Arten, die Ökosysteme stark verändern können. Seit 2006 kommt sie auch in Nord- und Ostsee vor. Wie sie dorthin gelangte, haben jetzt Meeresforscher mit Hilfe von vergleichenden Genanalysen herausgefunden. Überraschenderweise geschah dies nicht über die großen Nordseehäfen, sondern direkt über einen von Neuengland ins Baltikum fahrenden Frachter, wie die Forscher in der Fachzeitschrift „Molecular Ecology“ berichten.
Ihre Heimat ist eigentlich die amerikanische Ostküste, doch richtig berühmt wurde die Rippenqualle Mnemiopsis leidyi erst diesseits des Atlantiks. In den 1980er Jahren gelangte sie wahrscheinlich im Ballastwasser von Frachtschiffen ins Schwarze und dann ins Kaspische Meer. Dort vermehrte sie sich massenhaft und veränderte beide Ökosysteme massiv. Unter anderem brachen die Sardellen- Bestände in der Region zusammen, eine ganze Fischerei-Industrie verlor die wirtschaftliche Grundlage. 2006 wiesen Kieler Biologen Mnemiopsis leidyi schließlich auch in der Ostsee nach, kurze Zeit später entdeckten Forscher sie in der Nordsee. Doch zunächst blieb unklar, wie die Rippenqualle hierher
gekommen war.
Eine neue Studie von Wissenschaftlern des Kieler Leibniz-Instituts für Meereswissenschaften (IFM-GEOMAR) zeigt nun: Die Invasion von Nord- und Ostsee ist eine ganz eigene Einwanderungswelle, die getrennt von der Invasion des Schwarzen Meers ablief. „Alles spricht dafür, dass Mnemiopsis leidyi wieder im Ballastwasser von Frachtschiffen direkt aus den Ursprungsgebieten nach Nordeuropa gelangte“, sagt Professor Thorsten Reusch, Leiter der Forschungseinheit „Evolutionsökologie mariner Fische“ am IFM-GEOMAR und Hauptautor der Studie.
Genetischer Fingerabdruck als Verwandtschaftstest
Um den Ausbreitungswegen von Mnemiopsis leidyi auf die Spur zu kommen, nutzten Reusch und sein Team die gleiche Technik, mit der Kriminalisten Verdächtige überführen: den genetischen Fingerabdruck mittels sogenannter Wiederholungsregionen in der Erbinformation. Von Forscher-Kollegen aus den USA, aus der Türkei, Bulgarien, Dänemark, der Ukraine und aus dem Iran ließen
sie sich getrocknete Rippenquallen-Exemplare schicken.
„Getrocknet sind die Quallen am einfachsten zu transportieren und die DNA bleibt erhalten“, erklärt Reusch das Vorgehen. Schließlich besaßen die Kieler Biologen Proben aus allen vier Regionen, in denen Mnemiopsis leidyi aktuell vorkommt, also vom Golf von Mexiko, der US-amerikanischen Nordostküste (Neuengland), aus dem Schwarzen Meer und aus Nord- und Ostsee. So konnten sie die Erbinformationen der Quallen vergleichen.
Kein Umweg über das Schwarze Meer
Das Ergebnis: Die Exemplare aus dem Schwarzen Meer weisen deutliche Ähnlichkeiten mit denen aus dem Golf von Mexiko auf, unterscheiden sich aber ebenso deutlich von den Quallen aus der Ostsee. Diese sind dagegen sehr eng mit Mnemiopsis leidyi vor Neuengland verwandt. „Die Invasoren in der Ostsee stammen also von der nördlichen amerikanischen Population ab, die im Schwarzen Meer von der südlichen“, fasst Reusch zusammen. Eine natürliche Ausbreitung aus dem Schwarzen Meer über Flüsse und Kanäle in die Ostsee kann ausgeschlossen werden.
Überraschender Weg über Ostsee in Nordsee
Richtig überrascht waren die Forscher von einem weiteren Ergebnis. Die Untersuchungen zeigten, dass Mnemiopsis leidyi sich zuerst in der Ostsee ausbreitete und von dort in die Nordsee wanderte. „Da viele Trans-Atlantik-Schifffahrtsrouten in Hamburg, Rotterdam oder Antwerpen enden, hatten wir eigentlich mit der umgekehrten Reihenfolge gerechnet“, sagt Professor Reusch. „Der Überträger war also wahrscheinlich ein Frachter, der aus Neuengland kommend direkt einen baltischen Hafen anlief.“
Voranpassung an Wassertemperaturen?
Als nächstes versuchen die Kieler Forscher, lebende Exemplare von Mnemiopsis leidyi aus allen Regionen zu erhalten. „Es ist auffällig, dass sich ausgerechnet die nördlichere Population in Nord- und Ostsee und die südlichere im Schwarzen Meer verbreitet hat. Mit lebenden Exemplaren wollen wir testen, ob das an einer vererbten Anpassung an durchschnittlich wärmere oder kühlere Wassertemperaturen liegen kann“, sagt Sören Bolte, Doktorand am IFM-GEOMAR und Mitautor der Veröffentlichung.
Im Rahmen seiner Doktorarbeit wird er sich mit der Frage beschäftigen, wie schnell sich die Ostsee-Neubürger an die neuen Umweltbedingungen anpassen können. Allgemein wisse man noch viel zu wenig über die Anpassungsgeschwindigkeit von invasiven Arten, so Bolte. Daher könne man auch noch nichts zur weiteren Entwicklung in der Ostsee sagen. „Nur eins ist sicher: Mnemiopsis leidyi ist robust und sehr tolerant gegenüber Temperatur- und Sauerstoffbedingungen“, betont er.
(Leibniz-Institut für Meereswissenschaften, 28.06.2010 – NPO)