Was sieht der andere? Diese Frage können Raben im Geiste beantworten, wie ein Experiment nun belegt. Denn die schlauen Vögel erkennen, wann sie für einen Artgenossen sichtbar sind – selbst wenn dieser hinter einem Guckloch versteckt ist. Das zeigt, dass Raben sich in die Perspektive anderer hineinversetzen können und damit zumindest ansatzweise zu einer sogenannten „Theory of Mind“ fähig sind, wie Forscher im Fachmagazin „Nature Communications“ berichten.
Raben sind äußerst intelligente Vögel: Sie können zählen, verstehen fremde Beziehungen, kooperieren nur mit ehrlichen Artgenossen und verwenden Zeigegesten. Als ein weiterer Beleg für die Intelligenz von Rabenvögeln, aber auch von Schimpansen, gilt die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen und beispielsweise die Sichtbarkeit von Futter aus deren Perspektive einzuschätzen.
Beherrschen Raben den Perspektivwechsel?
Raben haben die Anfänge dieser sogenannten „Theory of Mind“ bereits in Experimenten bewiesen: Merken sie, dass sie beim Futterverstecken von Artgenossen beobachtet werden, reagieren sie prompt. Sobald der Beobachter wieder außer Sicht ist, kehren sie zum Futterversteck zurück, graben die Vorräte aus und an anderer Stelle wieder ein.
Allerdings: Aus diesen Versuchen geht nicht hervor, ob sich die Raben tatsächlich in den Beobachter hineinversetzen, oder ob sie nur instinktiv auf die Präsenz und Blickrichtung des anderen reagieren. Thomas Bugnyar von der Universität Wien und seine Kollegen haben daher die Fähigkeit der Raben, sich in andere hineinzuversetzen, auf eine etwas kniffligere Probe gestellt.
Spionage durch das Guckloch
Für ihre Studie ließen sie jeweils einen Raben in einem Versuchsraum allein. In der Wand zum Nachbarraum befanden sich jedoch Klappen mit Gucklöchern darin. Waren diese Löcher offen, konnte der Rabe Menschen dabei beobachten, wie er Futter versteckte. Wie erwartet, merkte sich der Rabe die Verstecke und fand sie, sobald er in den Raum gelassen wurde.
„Wir haben uns nun gefragt, ob die Raben ihre eigenen Erfahrungen – Gucklöcher als Spionagehilfe – in eine neue Situation übertragen können“, erklären die Wissenschaftler. Dafür erhielt nun der jeweilige Versuchsrabe die Gelegenheit, im Versuchsraum Futter zu verstecken. Dabei waren die Gucklöcher zum Nachbarraum entweder offen oder geschlossen und es ertönten von dort typische, per Tonband abgespielte Geräusche eines Artgenossen.
„Er kann mich sehen“
Und tatsächlich: War das Guckloch zum Nachbarraum offen, beeilten sich die Raben beim Futterverstecken und vermieden es, ihr Versteck zu lange oder mehrfach aufzusuchen, wie die Forscher berichten. Obwohl kein Artgenosse in Sichtweite war, verhielten sie sich damit genauso, als würden sie einen Beobachter sehen.
„Das zeigt, dass Raben ihre eigenen Erfahrungen mit dem Guckloch als Spionagehilfe verallgemeinern können“, sagen Bugnyar und seine Kollegen. „Sie schließen aus den Geräuschen und dem offenen Guckloch, dass ihr Konkurrent sie und ihr Versteck durch das Guckloch sehen kann.“ Allerdings: Die Raben begriffen nicht, dass durch das Guckloch nur ein Teil des Raumes sichtbar war. Hatten sie ihr Futterversteck in einem eigentlich toten Winkel angelegt, reagierten sie trotzdem, als wenn ihr Konkurrent sie sehen könnte.
Anfänge einer „Theory of Mind“
Nach Ansicht der Wissenschaftler sprechen diese Beobachtungen dafür, dass Raben nicht nur instinktiv auf Präsenz und Verhalten von Artgenossen reagieren. Sie sind stattdessen dazu fähig, sich ausgehend von eigenen Erfahrungen in die Sichtweise anderer hineinzuversetzen – zumindest in einem gewissen Maße. Sie könnten daher durchaus die Anfänge einer „Theory of Mind“ besitzen, so die Forscher.
Diese reicht zwar bei weitem nicht so weit wie die menschliche Fähigkeit, andere Perspektiven – und auch Beschränkungen des Blickwinkels – mental nachzuvollziehen. „Aber dies ist auch eine sehr fortgeschrittene Fähigkeit, von der wir nicht wissen, wann der Mensch sie im Laufe seiner Entwicklung erworben hat“, so Bugnyar und seine Kollegen. Es sei sogar unklar, in welchem Maße erwachsene Menschen diese Feinheiten der Perspektivübernahme beherrschen. (Nature Communications, 2016; doi: 10.1038/ncomms10506)
(Nature, 03.02.2016 – NPO)