Umwelt

Rätsel der radioaktiven Wildschweine gelöst

Warum Wildschweine in Deutschland scheinbar unmöglich hohe Mengen Cäsium-137 in sich tragen

Wildschweine
Wildschweine sind bis heute erstaunlich stark mit radioaktivem Cäsium belastet – aber warum? © JMrocek/ Getty images

Mysteriöse Verseuchung: Viele Wildschweine in Deutschland sind ungewöhnlich hoch mit radioaktivem Cäsium belastet – ihr Fleisch darf nicht verzehrt werden. Jetzt enthüllen Analysen die überraschende Quelle der radioaktiven Belastung: Das Cäsium stammt nicht aus Tschernobyl, sondern aus den Atombombentests der 1950er Jahre. Obwohl dieser Fallout überall sonst verschwunden ist, hat er sich in den von Wildschweinen geliebten Hirschtrüffeln angereichert – und gelangte so in die Nahrungskette.

Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 hat auch in Mitteleuropa ihre Spuren hinterlassen: Bis heute sind Pilze in einigen Regionen Süddeutschlands mit radioaktivem Cäsium-137 und anderen Radionukliden aus dem Fallout belastet. Auch das Fleisch von Wildtieren war anfangs stärker kontaminiert. Im Laufe der Zeit ließ diese Belastung jedoch nach: Das radioaktive Cäsium wurde vom Regen ausgewaschen, in Mineralien gebunden und tief in den Boden verfrachtet. Dadurch werden heute nur noch Spuren dieses Radionuklids von Pflanzen und Tieren aufgenommen.

Fallout-Quellen
Woher kommt das radioaktive Cäsium in den Wildschweinen? © Stäger et al./ Environmental Science & Technology, doi: 10.1021/acs.est.3c03565, CC-by 4.0

Cäsiumbelastung bis zu 25-fach über dem Grenzwert

Das Merkwürdige jedoch: Während die Kontamination von Pilzen, Hirschen und Rehen im Laufe der Zeit abgenommen hat, ist das Fleisch von Wildschweinen bis heute überraschend stark radioaktiv belastet. Proben von Wildschweinfleisch aus Mitteleuropa enthalten bis zu 15.000 Becquerel pro Kilogramm Cäsium-137 – das überschreitet den EU-Grenzwert für Lebensmittel von 600 Becquerel pro Kilogramm um das bis zu 25-Fache.

Aber warum? Allein durch die Halbwertszeit des Cäsium-137 von rund 30 Jahren müsste die Kontamination der Wildschweine inzwischen deutlich geringer sein. Ihr noch immer hoher Gehalt an radioaktive, Cäsium ist daher auch aus physikalischer Sicht auf den ersten Blick völlig widersinnig. Kein Wunder, dass dieses „Wildschwein-Paradoxon“ auch bei Experten für Rätselraten sorgte.

Cäsium-Isotope als Fahndungshelfer

Des Rätsels Lösung haben Felix Stäger von der Leibniz Universität Hannover und seine Kollegen gefunden. Für ihre Studie hatten sie Proben von Wildschweinfleisch aus verschiedenen Gebieten im Südosten Bayerns gesammelt und auf ihre Belastung mit radioaktiven Isotopen untersucht. Das Besonders jedoch: Das Team setzte dabei massenspektrometrische Methoden ein, die nicht nur Cäsium-137, sondern auch das langlebigere Cäsium-135 quantifizieren konnten.

Der Clou daran: Das Verhältnis von Cäsium-135 zu Cäsium-137 liefert wertvolle Hinweise darauf, woher eine radioaktive Kontamination stammt. So entstehen bei den Zerfällen des Kernbrennstoffs in Atomreaktoren normalerweise nur geringe Mengen des langlebigeren Cäsium-135. Deutlich höher ist der Anteil hingegen bei der Explosion einer Atombombe, wie bei den Kernwaffentests der 1950er und 1960er Jahre. Das Verhältnis der beiden Cäsium-Isotope kann daher – wie eine Art Fingerabdruck – verraten, woher das Cäsium in den Wildschweinen stammt.

Cäsium-Isotopenverhältnisse
Der Anteil von Cäsium-135 zu Cäsium-137 in den Wildschweinproben liefert Hinweise auf die Herkunft. © Stäger et al./ Environmental Science & Technology, doi: 10.1021/acs.est.3c03565, CC-by 4.0

Fingerabdruck des Kernwaffen-Fallouts

Das überraschende Ergebnis: Das radioaktive Cäsium in den Wildschweinen stammt nicht nur vom Atomunfall in Tschernobyl, sondern geht zu einem großen Teil auf den Fallout der Atombombentests in den 1950er und 1960er Jahren zurück. In einigen Proben lag der Anteil des Kernwaffen-Fallouts bei immerhin 68 Prozent. „Dieses gemischte Erbe von Tschernobyl und dem Atomwaffen-Fallout ist für die persistent hohen Belastungen der Wildschweine verantwortlich“, berichten Stäger und seine Kollegen.

Das wirft jedoch die Frage auf, warum die Wildschweine mehr als 60 Jahre nach Ende der Kernwaffentests so viel mehr Cäsium intus haben als andere Wildtiere. Hinzu kommt, dass der größte Teil des Cäsium-137 aus den Atombombenexplosionen längst zerfallen sein müsste. „Obwohl das Cäsium-137 aus den Kernwaffen schon zwei Halbwertszeiten lang in der Umwelt residierte, liefert unsere Arbeit den forensischen Beweis, dass dieses unterschätzte Erbe des Atomtest-Fallouts sich noch immerhin bestimmten Medien anreichern kann“, so das Team.

Hirschtrüffel als „Täter“

Doch wie kam so viel radioaktives Cäsium in die Wildschweine? Die Ursache dafür liegt an den speziellen Nahrungsvorlieben der Wildschweine: Sie graben besonders gerne Hirschtrüffeln aus dem Boden aus, und in diesen unterirdisch wachsenden Pilzen reichert sich das radioaktive Cäsium erst mit großer Zeitverzögerung an. Weil die meisten Hirschtrüffeln in 20 bis 40 Zentimeter Tiefe liegen, dauert es Jahrzehnte, bis radioaktive Isotope zu ihnen vordringen und sich dann in den Pilzen anreichern.

„Das Cäsium wandert sehr langsam durch den Boden nach unten, manchmal nur rund einen Millimeter pro Jahr“, erklärt Seniorautor Georg Steinhauser von der Technischen Universität Wien. Die Hirschtrüffeln, die heute von den Wildschweinen ausgegraben und gefressen werden, haben daher die in ihren Bodenschichten noch präsenten radioaktiven Nuklide des Kernwaffentest-Fallouts angereichert.

Belastung hält vorerst weiter an

Diese Erkenntnis bedeutet aber auch, dass die Belastung der Hirschtrüffeln und der Wildschweine so schnell nicht nachlassen wird. Denn das radioaktive Cäsium aus Tschernobyl beginnt gerade erst, bis in die Bodenschicht mit den Trüffeln vorzudringen. „Wenn man all diese Effekte addiert, lässt sich erklären, warum die Radioaktivität der Hirschtrüffeln – und in weiterer Folge der Schweine – größenordnungsmäßig relativ konstant bleibt“, sagt Steinhauser. (Environmental Science & Technology, 2023; doi: 10.1021/acs.est.3c03565)

Quelle: Technische Universität Wien

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