Rätselhaftes Wachstum: Immer wieder gibt es Schafe und Ziegen, denen statt der üblichen zwei vier Hörner wachsen. Grund dafür ist eine Mutation des sogenannten HOXD1-Gens, wie Forscher jetzt herausgefunden haben. Dieses Gen codiert für Proteine, die in der Embryonalentwicklung die Region bestimmen, in der die Hörner wachsen. Bei einer Genmutation verringert sich die Zahl der Proteine, sodass sich diese Fläche scheinbar ausdehnt und sich die Hornknospen spalten.
Bereits vor vielen Millionen Jahren lebten Lebewesen, die mächtige Kopfschilde und Hörner hatten. Bis heute hat sich eine große Vielfalt an knöchernen Schädelanhängen entwickelt – selbst bei kleinen Käfern oder riesigen Nashörnern. Besonders bekannt für ihre verschiedenen Hörnerpaare sind auch die Wiederkäuer, deren Kopfschmuck vermutlich denselben genetischen Ursprung hat. In der Familie der Hornträger (Bovidae) gibt es sogar einige Zuchtschafe und Ziegen, die mehr als die für sie typischen zwei Hörner ausbilden.
Woher stammt diese Anomalie?
Der genetische Ursprung dieser morphologischen Anomalie der Hörner, die auch als Polyzerat bezeichnet wird, war bisher ein Rätsel. Doch nun haben Wissenschaftler um Aurelie Allais-Bonnet von der Universität Paris-Saclay (UPS) das Genom von Hörnertieren mit den typischen zwei und den vier Hörnern untersucht.
Dazu verglich das Forscherteam zunächst das Genom von rund 1.200 Schafen, von denen über 1.000 Tiere die typischen zwei und elf Tiere vier Hörner hatten. Die Stelle im Genom, die sich bei den Schafen unterschied, prüften die Forscher schließlich auch bei rund 50 zweihornigen und 35 mehrhornigen Ziegen. Zur genauen Identifikation vervielfältigten sie den Abschnitt der Erbsubstanz mit der Polymerase-Kettenreaktion (PCR) und identifizierten die Basenpaare mittels Sequenzierung.
Ursprung in mutiertem HOXD1-Gen
Das Ergebnis: Tatsächlich war bei allen polyzeraten Individuen das gleiche Gen mutiert. Dabei handelte es sich um das Gen HOXD1, das ein sogenanntes homöotisches Gen ist. Diese Genecodieren für regulatorische Proteine, die an der Organisation des Körperplans und der Ausbildung der verschiedenen Organe während der Embryonalentwicklung beteiligt sind.
Die Analysen enthüllten, dass das HOXD1-Gen bei den Schafen und Ziegen unterschiedlich mutiert war: Bei den Schafen fehlten nur wenige Basenpaare, es lag eine Deletion vor. Bei den Ziegen hingegen waren neben dem Verlust eines größeren Genabschnitts zudem Basen-Segmente an eine andere Stelle verlagert. Beide Mutationsformen führten jedoch dazu, dass sich die Menge des vom HOXD1-Gen codierten Proteins verringerte.
Proteine bewirken Teilung der Hornknospen
Doch wie hängt dies mit den zusätzlichen Hörnern zusammen? Mithilfe von Versuchen an modifizierten Mäusen und Untersuchungen von Schaf- und Ziegenembryos sowie Messungen verschiedener Schädel, fanden Allais-Bonnet und ihr Team heraus, dass die HOXD1-Proteine die Region bestimmen, in der die Hörner auf beiden Seiten des Kopfes der Hörnertiere wachsen.
Bei einer Genmutation und entsprechend geringeren Zahl der Regulatorproteine dehnt sich diese Region aus. Das wiederum führt dazu, dass sich die Hornknospen während der Embryonalentwicklung ebenfalls dehnen und schließlich spalten. „Diese Ausdehnung könnte die Knospenregion so weit vergrößern, dass sie eine Trennung in zwei verschiedene Organe ermöglicht“, erklärt das Forschungsteam. Als Folge wachsen den Tieren dann überzählige Hörner.
Spezielle Eigenheit der Hörnertiere
Diese Erkenntnis stellt eine neue und unerwartete Funktion für ein homöotisches Gen dar, wie die Wissenschaftler erläutern. Sie folgern deshalb, dass sich diese Eigenschaft wahrscheinlich speziell bei den Hörnertieren entwickelt hat und es ermöglicht, den genauen Bereich und die Anzahl der charakteristischen Schädelanhänge zu bestimmen.
„Diese Ergebnisse unterstreichen die Schlüsselrolle, die dieses Gen bei der Musterung des Kopfes spielt, und illustrieren die evolutionäre Übernahme eines Gens, das an der frühen Entwicklung der Tiere beteiligt ist“, resümieren Allais-Bonnet und ihre Kollegen. (Molecular Biology and Evolution, 2021, doi: 10.1093/molbev/msab021)
Quelle: INRAE