Mysteriöser Exot: Das rätselhafte Urzeit-Wesen Tullimonstrum gregarium ist offenbar doch kein Bindeglied der frühen Wirbeltier-Evolution. Stattdessen muss es sich bei dieser exotischen, rund 300 Millionen Jahre alten Tierart um einen ungewöhnlichen Vertreter der Wirbellosen handeln. Das legen nun neue 3D-Analysen von mehr als 100 Fossilien des Tully-Monsters nahe. Welcher wirbellosen Tiergruppe das marine Wesen aus dem Karbonzeitalter aber angehörte, ist weiterhin rätselhaft.
Es sieht aus wie ein Alien: Als Paläontologen in den 1950er Jahren Ausgrabungen in der Mazon Creek Formation im US-Bundesstaat Illinois durchführten, stießen sie auf massenhaft Fossilien eines höchst bizarren Tieres: Das rund 15 Zentimeter große Wesen hat statt eines Mundes einen langen, rüsselartigen Fortsatz mit einer zahnbewehrten Zange am Ende. Seine Augen sitzen auf zwei langen, dünnen Stielen und sein Körper scheint segmentartig gegliedert. Das vor rund 300 Millionen Jahren lebende Wesen wurde nach seinem Entdecker Tully-Monster getauft (Tullimonstrum gregarium).
Was ist das Tully-Monster?
Doch worum es sich bei diesem Tier handelt, ist bis heute umstritten. „Die seltsame Morphologie passt zu keinem bekannten Tierbauplan“, erklären Tomoyuki Mikami von der Universität Tokio und seine Kollegen. Nachdem das Tully-Monster zunächst als eine Art Urzeit-Borstenwurm galt, enthüllten eingehende Analysen seiner Anatomie einige Merkmale, die überraschend Wirbeltier-ähnlich waren. 2016 ordneten Paläontologen Tullimonstrum deshalb als einen Vorläufer der Neunaugen und damit als frühes Wirbeltier ein.
Allerdings blieb diese Einordnung umstritten. Deshalb haben Mikami und sein Team das Rätseltier nun noch einmal genauer untersucht. Sie analysierten 153 fossile Exemplare des Tully-Monsters mithilfe eines hochauflösenden 3D-Laserscanners und mittels Mikro-Röntgentomografie. Dabei konzentrierten sie sich vor alle auf die Kopfregion, da sich dort am ehesten charakteristische, für seine Zuordnung hilfreiche Merkmale verbergen könnten.
„Wirbeltier-Hypothese nicht haltbar“
Das überraschende Ergebnis: Das Tully-Monster ist offenbar doch kein Wirbeltier. „Basierend auf mehreren Linien der Beweisführung ist die Wirbeltier-Hypothese für Tullimonstrum nicht haltbar“, konstatiert Mikami. Demnach ergaben die 3D-Analysen, dass die auf den ersten Blick Wirbeltier-ähnlich aussehenden Merkmale, darunter ein dreigeteiltes Gehirn, segmentierte Muskeln und Strahlenflossen, sich deutlich von ihren Vertebraten-Gegenparts unterscheiden.
„Diese Strukturen sind nicht mit denen der Wirbeltiere vergleichbar“, schreiben die Paläontologen. Hinzu kommt: Analysen der Kopfregion des Tully-Monsters zeigten eine Segmentierung in der Proboscis, dem langgestreckten Mundfortsatz des Tieres. Wäre Tullimonstrum ein Wirbeltier und der Fortsatz eine Art Rüssel, dürfte die Proboscis aber keine solche Segmentierung aufweisen. „Diese Charakteristik ist von keiner Wirbeltier-Linie bekannt und deutet auf eine Zugehörigkeit zu den Wirbellosen hin“, sagt Mikami.
Tully-Monster bleibt ein exotisches Rätsel
Nach Ansicht der Paläontologen ist das rätselhafte Tully-Monster demnach kein Wirbeltier und auch kein Bindeglied der Vertebraten-Evolution. Stattdessen halten sie das Tier eher für einen urtümlichen Vertreter der Wirbellosen. Mikami und sein Team vermuten, dass Tullimonstrum zu den Urmündern (Protostomia) gehören könnte. Diese Tiergruppe umfasst heute verschiedene Würmer, Mollusken, Stummelfüßer und die Arthropoden.
Denkbar wäre aber auch, dass das Tully-Monster eine frühe Form der wirbellosen Chordatiere darstellte. Damit könnte es ein früher, exotischer Seitenzweig der Stammeslinie sein, zu der heute Lanzettfischchen und Seescheiden gehören.
Eine eindeutige Zuordnung des Tully-Monsters steht aber weiterhin aus, denn auch Mikami und sein Team konnten die Zugehörigkeit der fossilen Tierart nicht näher eingrenzen. Das Urzeit-Wesen bleibt damit weiterhin ein Rätsel. (Palaeontology, 2023; doi: 10.1111/pala.12646)
Quelle: University of Tokyo