Biologie

Riesenviren an der Grenze zum Leben

Neuentdeckte Tupanviren besitzen fast die gesamte Maschinerie der Proteinbiosynthese

Ein Tupanvirus unter dem Elektronenmikroskop. Ungewöhnlich ist neben seiner Größe vor allem sein langer und dicker Schwanz © Abrahão et al./ Nature Communications, CC-by-sa 4.0

Überraschend zellähnlich: Zwei neuentdeckte Riesenviren lassen die Grenze zwischen Viren und zellulären Lebewesen weiter verschwimmen. Denn die in Brasilien gefundenen Tupanviren sind nicht nur so groß wie ein Bakterium und tragen einen langen Schwanz. Ihr Genom enthält zudem die Bauanleitungen für fast die gesamte Maschinerie der Proteinbiosynthese, wie die Forscher im Fachmagazin „Nature Communications“ berichten. Besäßen diese Viren Ribosomen, könnten sie selbst Proteine herstellen – ganz ohne Wirt.

Bisher schien die Abgrenzung klar: Als Lebewesen gilt ein Organismus, der die Zellmaschinerie für die Proteinbiosynthese besitzt – nur dann kann er sich selbst vermehren, wie es beispielsweise Bakterien, Pilze und höhere Organismen tun. Viren dagegen sind für ihre Vermehrung auf die Zellmaschinerie ihrer Wirtszellen angewiesen und daher keine echten Lebewesen. Denn sie besitzen weder die Gene, noch die biomolekulare Ausstattung für die Herstellung von Proteinen – so dachte man jedenfalls bisher.

Doch in den letzten Jahren haben Forscher bereits mehrere Viren entdeckt, die dieses einfache Schema zu sprengen drohen. Denn Riesenviren wie Mimivirus, Megavirus, Pandoravirus oder die Klosneuviren sind nicht nur so groß wie Bakterien, ihre Erbgut enthält auch viel mehr Gene als normalerweise bei Viren üblich. Darunter sind auch einige Gene für die Proteinbiosynthese.

Neuartige Riesenviren – mit Schwanz

Jetzt haben Jonatas Abrahão von der Aix Marseille Universität und seine Kollegen zwei neue Riesenviren aufgespürt, die die Grenze zwischen Viren und „echten“ Lebewesen noch weiter aufweichen. Entdeckt haben sie die Viren in Proben aus alkalischen Salzseen in Brasilien und aus Meeressedimenten in 3000 Metern Tiefe vor der Atlantikküste Brasiliens.

Die Tupanviren ähneln fast schon kleinen Bakterien, hier Aufnahmen mit dem Rasterelektronenmikroskop. © Abrahão et al./ Nature Communications, CC-by-sa 4.0

An einigen Amöben in diesen Proben entdeckten die Forscher einen bisher unbekannten Typ von Riesenviren. „Das Elektronenmikroskop enthüllte eine bemerkenswerte Struktur dieser Virionen“, berichten sie. Denn die mit 450 Nanometern ohnehin schon großen Virenkapseln mündeten in einen rund 550 Nanometer langen und 450 Nanometer dicken Schwanz. „Das ist der längste Schwanz, der je bei einem Virus beschrieben worden ist“, konstatieren Abrahão und seine Kollegen.

Mitsamt ihres Schwanzes können diese Tupanviren bis zu 2,3 Mikrometer groß werden. „Das macht sie zu den größten Virenpartikeln, die bisher bekannt sind“, sagen die Forscher.

Bauanleitung für die Proteinbiosynthese

Als die Forscher das Genom dieser Riesenviren analysierten, entpuppte sich dieses als überraschend umfangreich: Die DNA der Tupanviren enthielt zwischen 1,4 und 1,5 Millionen Basenpaare und 1.276 bis 1.425 proteinkodierende Gene. „Das ist das viertgrößte virale Genom, das bisher bekannt ist“, so Abrahão und seine Kollegen. Übertroffen wird es nur vom Erbgut der Pandoraviren.

Noch ungewöhnlicher aber: Die Tupanviren verfügen über fast die gesamte Maschinerie für die Proteinbiosynthese. In ihrem Erbgut tragen sie die Bauanleitungen für bis zu 70 verschiedene Transport-RNAs (tRNA), für Enzyme, die alle 20 Aminosäuren zusammenbauen können und für elf weitere Faktoren, die für die Translation wichtig sind. „In diesem translationsbezogenen Gensatz fehlt eigentlich nur das Ribosom“, berichten die Forscher.

Beim Befall einer Amöbe entlässt das Tupanvirus auch den Inhalt seines Schwanzes in die Wirtszelle. © Abrahão et al./ Nature Communications, CC-by-sa 4.0

An der Grenze zwischen Viren und Lebewesen

Die neuentdeckten Tupanviren besitzen damit den vollständigsten Translations-Apparat, der je bei einem Virus gefunden wurde, wie die Forscher berichten. Sie kommen damit den echten, zellulären Organismen überraschend nahe. Die Entdeckung dieser Viren erweitert damit nicht nur das Spektrum der bisher bekannten Riesenviren – sie lässt die Grenze zwischen Viren und Lebewesen weiter verschwimmen.

Doch auch das Rätsel um die Entstehung solcher Riesenviren geht damit weiter. Denn bisher ist unklar, wie diese rätselhaften Zwitter aus Viren und echten Zellen entstanden sind. Gingen sie aus zellulären Vorgängern hervor, die den größten Teil ihrer Zellmaschinerie wieder reduzierten? Oder entwickelten sich die Riesenviren aus normalen Viren, die nach und nach Erbgut-Stücke aus ihren Wirten übernahmen?

Noch haben Wissenschaftler auf diese Frage keine eindeutige Antwort. Bei den Tupanviren vermuten sie jedoch, dass diese aus größeren Organismen hervorgingen. In Anpassung an ihr Leben als Zellparasiten könnte diese ihre eigene Zellmaschinerie reduziert haben, darunter die Energieversorgung und Teile der Proteinbiosynthese. „Eine solche Reduktion von Merkmalen ist typisch für obligat intrazelluläre Parasiten“, sagen Abrahão und seine Kollegen. (Nature Communications, 2018; doi: 10.1038/s41467-018-03168-1)

(Nature, 28.02.2018 – NPO)

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