Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin hat bei der Vorstellung seines neuen Buches provokante Theorien aufgestellt, die eine kontroverse Diskussion ausgelöst haben. Die genetischen Thesen von Sarrazin sind jedoch nicht mit den modernen Erkenntnissen zur Evolutionsbiologie des Menschen vereinbar. Darauf hat jetzt der Verband Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin in Deutschland (VBIO) in Deutschland hingewiesen.
{1r}
Der VBIO verwehrt sich entschieden gegen jede Verfälschung und politische Instrumentalisierung biologischer Fakten – sei es durch Sarrazin selbst oder durch andere Teilnehmer der derzeit laufenden öffentlichen und medialen Debatte.
Evolutionsbiologisch gesehen sei der Mensch eine der genetisch homogensten Spezies die es auf der Erde gebe. „Im Vergleich zu anderen Spezies sind die Unterschiede zwischen Populationsgruppen sehr gering. Tatsächlich sind die Unterschiede innerhalb von Populationsgruppen etwa 5-fach höher als zwischen ihnen“, so der VBIO.
Gründerpopulation mit weniger als 50.000 Individuen
Das genetische Repertoire des heutigen Menschen geht auf eine Gründerpopulation von weniger als 50.000 Individuen zurück. Praktisch alle heute existierenden Genvarianten gab es bereits in dieser Population und diese sind in praktisch allen gegenwärtigen Volksgruppen zu finden.
Die einzige signifikante Differenzierung die kürzlich gefunden wurde, ist die, dass sich nur die Vorgänger der Europäer und Asiaten mit Genmaterial des Neandertalers vermischt haben, nicht aber die Afrikaner. Genau genommen gibt es „genetisch reine“ Menschen – aus evolutionsbiologischer Sicht allerdings ein unsinniger Begriff – daher nur in Afrika, so der VBIO.
Auf die Art des genetischen Unterschiedes kommt es an
Genetische Unterschiede zwischen den heutigen Volksgruppen lassen sich im Wesentlichen nur mit Hilfe von neutralen genetischen Markern nachweisen, die per definitionem keine Rückschlüsse auf spezifische Eigenschaften erlauben. Neutrale genetische Marker verhalten sich – eben weil sie neutral sind – nach statistischen Zufallsprinzipien.
Unterschiede zwischen Bevölkerungsgruppen sagen laut VBIO nichts anderes aus, als dass diese eine Zeit lang in unterschiedlichen Regionen gelebt haben. Wenn man eine Gruppierung von Volksgruppen mittels neutraler Marker durchführt, erhält man ein ungefähres Abbild der geographischen Verteilung.
Gene für die Hautfarbe unterscheiden sich
Darüber hinaus gibt es aber tatsächlich einige wenige funktionale Genregionen in denen Menschengruppen sich unterscheiden. Ganz offensichtlich gehören dazu die Gene, die die Hautfarbe bestimmen. Sie sind dem VBIO zufolge als lokale Adaptationen entstanden, aus der Balance zwischen Schutz vor UV-Strahlen und der Notwendigkeit über eine Lichtreaktion Vitamin D in der Haut zu erzeugen.
Ein weiteres prominentes Beispiel ist eine bei Westeuropäern sehr häufige Genvariante, die es Erwachsenen erlaubt Milchzucker zu verdauen. Dies ist evolutionsbiologisch eine genetische Anpassung an die kulturelle Errungenschaft der Milchverarbeitung – am häufigsten ist diese Genvariante in Holland. Bei Japanern gibt es dafür genetische Anpassungen in der Darmflora, die es ihnen erlauben Nährstoffe aus Meeresalgen zu verwerten. Andere Unterschiede betreffen Resistenzen gegen Krankheitserreger, wie etwa die mittelalterliche Pest.
Genetische Unterschiede und Intelligenz
Dass es bei Volksgruppen genetische Unterschiede in Bezug auf Intelligenzleistungen geben könnte, ist nach dem gegenwärtigen Stand des Wissens nicht zu erwarten, so der VBIO. Intelligenz wird von vielen Genregionen beeinflusst, die in jedem Individuum neu zusammengewürfelt werden. Das kann zu großen Unterschieden innerhalb einer Gruppe führen, wirkt aber gleichzeitig im Vergleich zwischen Gruppen wie ein Puffer.
Wissenschaftlich formuliert: die Varianz innerhalb der Gruppe übersteigt die Unterschiede zwischen Gruppen bei weitem. Selbst wenn es zu lokalen Veränderungen der Häufigkeit von Genvarianten kommen sollte – wie beispielsweise durch Inzucht in Alpentälern -, würden diese Verteilungsunterschiede im Falle von Rückkreuzungen schnell wieder ausgeglichen. Dafür reicht nach Angaben des VBIO bereits ein einprozentiger Genfluss.
Gleiches genetisches Potenzial für Intelligenzleistungen
Es ist daher laut VBIO davon auszugehen, dass jede Volksgruppe grundsätzlich das gleiche genetische Potenzial für Intelligenzleistungen hat. Dass es auch messbare Unterschiede in Intelligenzleistungen gibt, liege nur daran, dass die Intelligenztests durch kulturelle Vorerfahrungen beeinflusst werden. Jede Volksgruppe, die einen Intelligenztest auf der Basis ihrer eigenen Kultur entwickeln würde, würde feststellen, dass die meisten anderen Kulturen durchschnittlich schlechtere Leistungen zeigen als die Mitglieder des eigenen Kulturkreises.
Da aber kulturelle Traditionen nicht genetisch festgeschrieben sind, können sie sich auch innerhalb einer Generation verändern. Die Großmutter ist dem Enkel bei der Formulierung von handschriftlichen Briefen haushoch überlegen, während sie mangels einschlägiger Erfahrungen bestimmte Leistungen am Computer nicht erbringen kann.
Subjektive Wahrnehmung von Unterschieden
Dass wir neben den offensichtlichen Unterschieden in den Hautfarben überhaupt Ethnien unterscheiden können, liegt – so der VBIO – an den ausgesprochen hoch entwickelten kognitiven Fähigkeiten des Menschen, die für sie relevante Informationen aus der Umwelt akzentuieren. Deswegen können wir als Europäer auch sehr gut europäische Volksgruppen unterscheiden, asiatische aber viel schlechter.
Umgekehrt ist es aber genauso – Asiaten können europäische Volksgruppen viel schlechter unterscheiden. Was uns subjektiv als großer Unterschied erscheint, muss daher nicht bedeuten, dass es auch tatsächlich einen großen genetischen Unterschied gibt.
Aussagen beruhen auf Halbwissen
Fazit des VBIO: Sarrazin hat die grundlegenden genetischen Zusammenhänge falsch verstanden – seine Aussagen beruhen auf einem Halbwissen, das nicht dem Stand der Evolutionsforschung entspricht.
(idw – Verband Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin in Deutschland, 03.09.2010 – DLO)