Die Nervenzellen unseres Rückenmarks verfügen über einen bisher unbekannten Schutzmechanismus gegen starke Schmerzen. Dies haben jetzt Forscher des Universitätsklinikums Heidelberg herausgefunden. Wie die Wissenschaftler um Dr. Rohini Kuner und Anke Tappe in der online-Ausgabe des Fachmagazins "Nature Medicine" berichten, könnte diese Entdeckung für völlig neue Perspektiven bei der Therapie chronischer Schmerzen sorgen.
Im Mittelpunkt der Studie stand eine Gruppe von Proteinen, die vor neun Jahren in einem Bereich des Großhirns, dem limbischen System, das für die Verarbeitung von Emotionen, aber auch für die Schmerzempfindung zuständig ist, entdeckt worden ist. Die Eiweiße tragen den willkürlich gewählten, klangvollen Familiennamen Homer und fungieren quasi als Adapterproteine, die Nervensignale verknüpfen.
Im flüssigen Medium der Zelle gleichen sie schwimmenden Brücken, die zwei Ufer verbinden: Auf der einen Seite die Empfangsstationen für Signale aus dem Körper; auf der anderen Seite Zellsysteme zur Verarbeitung dieser Signale. "Wir haben nun zum ersten Mal bewiesen", erklärt Kuner, "dass Homer Proteine auch im Rückenmark vorkommen und dort an der Schmerzverarbeitung beteiligt sind."
Schmerzen werden vom Ort der Entstehung über elektrische Nervensignale ins Rückenmark geleitet. Dort werden sie über spezielle Verbindungsstellen, so genannte Synapsen, umgeschaltet und ans Gehirn weitergeleitet. Dabei wandelt sich der elektrische Reiz in einen chemischen Boten um, der den Zwischenraum zwischen den Nervenzellen überquert, um in der Rückenmarkszelle einen elektrischen Reiz auszulösen.
Für diesen zweiten Schritt sind Homer Proteine essentiell: Sie bauen die Brücke zwischen der chemischen Botschaft und deren elektrischer Weiterleitung – verbinden über ein molekulares Gerüst die Rezeptorproteine für den Botenstoff Glutamat mit den Schleusen für Kalzium in der Zellwand.
Protein verhindert die Ausbildung von Schmerzgedächtnis
Eines der Homer Proteine, 1a genannt, das nur halb so groß wie die anderen ist, widersetzt sich und versucht, das Gerüst ständig zum Einsturz zu bringen. Sobald die Homer Proteine beginnen, die Schmerzbrücke zu bauen, legt sich Sprössling Homer 1a quer. Tatsächlich wird das kleine Protein bei chronischen Entzündungen vom Körper reichlich produziert. Gerade bei chronischen Schmerzen trägt nämlich der Rest der Homer Proteine dazu bei, dass ein Schmerzgedächtnis aufgebaut wird und der Schmerz chronisch wird.
"Bisher kannten wir nur Rückkopplungsmechanismen, die den Schmerz verstärken", sagt Kuner. Als endogene Hemmstoffe von Schmerzen galten bislang ausschließlich Endorphine oder Cannabis-Abkömmlinge. "Mit Homer 1a haben wir erstmals einen negativen Rückkopplungsmechanismus der Schmerzverarbeitung identifiziert." Für akute Schmerzen, die sinnvolle Warnsignale sind, hat das wenig Bedeutung. Chronische Schmerzen aber, die ihren Sinn und Warncharakter weitgehend verloren haben, wären ohne den Schutz der körpereigenen Notbremse Homer 1a noch weniger zu ertragen.
Möglicher Ansatz für Gentherapie oder neues Medikament
In ihrer Arbeit zeigt die Forschungsgruppe, die sich über Wissenschaftler aus Heidelberg über Neuseeland, New York (Cornell), Zürich und Wien spannt, dass Schmerzen umso schwächer empfunden werden, je höher die Konzentration von Homer 1a im Rückenmark ist. Das ließe sich möglicherweise therapeutisch nutzen, indem man in einer Gentherapie den Bauplan für dieses Protein in die betroffenen Zellen einschleust. Leichter wäre es jedoch vermutlich, kleine Teile von Homer 1a, die Hebel gewissermaßen, mit denen er die Schmerzbrücke abbaut, nachzuformen und zum Medikament zu entwickeln.
(idw – Universitätsklinikum Heidelberg, 23.05.2006 – DLO)