Neurobiologie

Selbst Quallen sind lernfähig

Ursprünge des assoziativen Lernens womöglich älter als gedacht

Würfelqualle
Karibische Würfelquallen können lernen, Unterwasser-Hindernissen auszuweichen. Dabei helfen ihnen die augenähnlichen Rhopalia (die dicken Knubbel unten am Schirm). © Jan Bielecki

Sie können es doch: Obwohl Quallen kein richtiges Gehirn besitzen, sind sie trotzdem zu assoziativem Lernen fähig, wie Forschende nun erstmals demonstriert haben. Im Labor lernten die Nesseltiere bereits nach wenigen Minuten, Unterwasser-Hindernissen gezielt auszuweichen. Da Quallen eines der ältesten und simpelsten Nervensysteme überhaupt besitzen, nehmen die Forschenden nun an, dass sich Lernen und Gedächtnis noch früher entwickelt haben könnten als bislang angenommen.

Quallen sind simple, aber faszinierende Lebewesen. Sie bestehen zu 99 Prozent aus Wasser, besitzen weder Herz noch Hirn noch Blut und trotzdem bevölkern sie unseren Planeten schon seit hunderten Millionen Jahren. Auf den ersten Blick verdanken die hirnlosen Nesseltiere diese Leistungen aber wohl kaum einer überdurchschnittlichen Intelligenz. Oder trauen wir Quallen in dieser Hinsicht nur zu wenig zu?

Im Unterwasser-Klassenzimmer

Um herauszufinden, was kognitiv betrachtet wirklich in Quallen steckt, haben Forschende um Jan Bielecki von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel diese Nesseltiere nun erstmals hinsichtlich ihrer Lernfähigkeiten untersucht. Bei den „Schülern“ handelte es sich um Karibische Würfelquallen (Tripedalia cystophora). Ihr „Klassenzimmer“: ein Wassertank mit grauen und weißen Streifen an der Innenwand. Die Aufgabe: Nicht gegen die grauen Streifen stoßen.

Für die Würfelquallen handelte es sich bei dem Experiment gewissermaßen um ein Heimspiel, denn normalerweise leben die nur fingernagelgroßen Nesseltiere in den karibischen Mangrovensümpfen. Dort jagen sie Wasserflöhe und müssen dabei den unzähligen Unterwasserwurzeln der Mangroven-Bäume ausweichen. Die Würfelquallen nehmen ihre mit Hindernissen gespickte Umgebung durch 24 über den Körper verteilte Augen wahr.

Die grauen Streifen am Wassertank sollten auf die Quallen wie weit entfernte Wurzeln wirken, die weißen Streifen wie Wasser. Da die Nesseltiere die fernen „Wurzeln“ folglich nicht als unmittelbares Hindernis wahrnehmen dürften, erwarteten die Forschenden, dass sie zunächst mehrmals gegen die grauen Streifen stoßen würden. Doch würden sie auch irgendwann lernen, die Streifen zu meiden?

Schwimmbahn
Schon nach wenigen Minuten reduzierten sich die Kollisionen mit der Beckenwand. Die blaue Linie zeigt eine Schwimmbahn zu Beginn, die grüne eine gegen Ende des Experiments. © Jan Bielecki / Current Biology

Quallen können assoziativ lernen

Und tatsächlich: Zwar stießen die Quallen anfangs wie erwartet häufig mit den vermeintlichen Wurzeln zusammen, doch bereits nach wenigen Minuten schienen sie verstanden zu haben, dass die Hindernisse näher lagen als es zunächst schien, wie die Forschenden berichten. Nach 7,5 Minuten kollidierten die Würfelquallen nur noch halb so oft wie zu Beginn mit der Beckenwand. Die Zahl der Drehungen, mit denen sie erfolgreich dem „Wurzelwerk“ auswichen, hatte sich sogar vervierfacht.

„Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass Quallen durch die Kombination von visuellen und mechanischen Reizerfahrungen lernen können“, erklärt Koautor Anders Garm von der Universität Kopenhagen. Man spricht auch von assoziativem Lernen. Ein menschliches Alltagsbeispiel dafür wäre die berühmte Hand auf der Herdplatte. Haben wir einmal gelernt, dass die Berührung der heißen Platte uns Schmerzen zufügt, vermeiden wir sie zukünftig.

Während assoziatives Lernen bei höher entwickelten Lebewesen wie Mensch, Hund und Co. gang und gäbe ist, traute man dies Nesseltieren wie Quallen bislang nicht zu. „Das ist eine höhere Form des Lernens, als man von so einem Lebewesen erwarten würde“, sagt Bielecki.

Augen als Lernzentrum

Doch wie gelingt es der Würfelqualle, assoziativ zu lernen, wenn sie gar kein Gehirn hat? Um die zugrunde liegenden Prozesse zu verstehen, isolierte Bielecki in einem zweiten Schritt die vier visuellen Sinneszentren der Tiere, die sogenannten Rhopalia. Jedes Rhopalium enthält sechs Augen und gerade einmal 1.000 Nervenzellen. Diese Menge reicht allerdings aus, um elektrische Signale zu erzeugen, die die Bewegungen der Qualle steuern.

Bielecki zeigte den isolierten Rhopalia sich bewegende graue Balken, um zu simulieren, dass die Qualle auf ein Hindernis zusteuert. Doch die Sehzentren sendeten keine Ausweich-Signale. Erst als der Forscher den Sehzentren einen elektrischen Stimulus zufügte, der einen Zusammenprall mit der Wand simulierte, erzeugten sie auf einmal Signale, die die Qualle zu einer ausweichenden Drehung bewegen würden. Bielecki schließt daraus, dass die Lernprozesse der Würfelquallen in ihren Rhopalia ablaufen müssen.

Fähigkeit zu lernen älter als gedacht?

Dass ein so urtümliches und simpel gebautes Wesen wie eine Qualle zu assoziativem Lernen fähig ist, wirft ein neues Licht auf die evolutionären Wurzeln von Lernen und Gedächtnis. Wenn selbst ein so einfaches Nervensystem wie das der Würfelqualle auf fortgeschrittene Weise lernen kann, könnte die Fähigkeit für dieses Lernen deutlich älter sein als bislang angenommen, wie die Forschenden erklären. Es könnte sich bei ihr sogar um einen derart grundlegenden zellulären Mechanismus handeln, dass dieser bereits seit der Evolution der allerersten Nervensysteme existiert.

Doch die Fähigkeiten der Würfelquallen sagen nicht nur etwas über die evolutionäre Vergangenheit aus, sondern könnten auch ganz praktisch nützlich sein. Mit ihrer Hilfe könnten sich zum Beispiel energiesparende, elektronische Schaltkreise entwickeln lassen, die zur Mustererkennung fähig sind. „Bisher läuft das über Computersoftware, die dabei aber viel Energie verbraucht“, erklärt der Kieler Nanoelektroniker Hermann Kohlstedt.

„Doch aus der Natur und der Evolution wissen wir, dass es sehr viel energieeffizientere Wege gibt, Informationen zu verarbeiten“, so Kohlstedt weiter. So wie die Würfelqualle, die bereits mit wenigen tausend Nervenzellen erfolgreich Hindernisse erkennen und um sie herum navigieren kann. (Current Biology, 2023; doi: 10.1016/j.cub.2023.08.056

Quelle: Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Cell Press

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