Der Hirnbotenstoff Serotonin lässt harmlose Grashüpfer zu den gefürchteten, schwärmenden Wanderheuschrecken werden. Mit der Entdeckung dieses neurobiologischen Schalters im Gehirn der Tiere haben britische Forscher nicht nur ein 90 Jahre altes Rätsel gelöst, sondern auch einen Weg eröffnet, wie sich zukünftig Heuschreckenplagen verhindern lassen. Ihre Ergebnisse sind jetzt in der Fachzeitschrift „Science“ erschienen.
Wüstenheuschrecken sind eine der verheerendsten Insektenplagen, die es weltweit gibt. Mehr als 20 Prozent der globalen Landoberfläche fallen mehr oder weniger regelmäßig den gefräßigen Schwärmen der Tiere zum Opfer. Zuletzt verwüsteten im November 2008 sechs Kilometer lange, aus Millionen von Heuschrecken bestehende Schwärme Teile Australiens.
Der Übergang von der normalerweise eher einzelgängerischen Lebensweise der Heuschrecken in das Schwarmstadium geschieht meist dann, wenn es lange Zeit nicht regnet. Die Heuschrecken konzentrieren sich – der wenigen verbleibenden Vegetation folgend – an einigen Orten und leben dort eng beieinander. Der enge Kontakt mit vielen Artgenossen löst nun eine Verwandlung aus, die nicht nur das Verhalten, sondern auch den Körper der Tiere umfasst: Ihre Färbung ändert sich, die Flugmuskulatur wächst und sie suchen aktiv die Gesellschaft anderer Artgenossen. Die Verwandlung der Wüstenheuschrecken von der Einzelgänger- in die Schwarmform ist so schnell und frappierend, dass Forscher bis zum Jahr 1921 beide Formen sogar für getrennte Arte hielten.
Was passiert im Nervensystem?
Was genau die Metamorphose der Tiere auslöst, war bis heute unklar. Jetzt jedoch haben Wissenschaftler der Cambridge Universität um Steve Rogers und der Oxford Universität um Michael Anstey herausgefunden, was genau in den Heuschrecken vorgeht und lösten damit ein 90 Jahre altes Rätsel. „Bisher kannten wir zwar die äußeren Reize, die bei den Heuschrecken diese erstaunliche ‚Jekyll and Hyde’-Transformation auslöste, aber niemand konnte die Veränderungen im Nervensystem der Tiere identifizieren, die antisoziale Heuschrecken zu monströsen Schwärmen machte“, erklärt Anstey.
Kitzeln löst Serotonin-Schwemme aus
In ihren Laborversuchen kitzelten die Wissenschaftler zunächst ihre Versuchsheuschrecken über einen Zeitraum von zwei Stunden immer wieder an den Hinterbeinen. Sie simulierten so das ständige Aneinanderstoßen mit Artgenossen, wie es an den gedrängten Ursprungsorten der Schwärme der Fall ist. Gleichzeitig analysierten sie die Konzentration des Botenstoffs Serotonin in den Bahnen des Nervensystems im Vorderkörper der Tiere.
Es zeigte sich, dass während des Kitzelns die Serotoninkonzentration sehr schnell um das Dreifache anstieg. Gleichzeitig fand die Umwandlung in das Schwarmstadium statt: Nach Ablauf der beiden Kitzelstunden hatten die Heuschrecken ihre Schwarmform erreicht.
Botenstoff als Transformations-Faktor
Aber war das Serotonin wirklich der auslösende Faktor? Um dies zu testen, führten die Wissenschaftler weitere Versuche durch: In einem verabreichten sie den Heuschrecken Substanzen, die die Wirkung des Serotonins auf die Rezeptoren blockierte. Als diese Tiere den gleichen Kitzelreizen ausgesetzt wurden, fand keine Umwandlung in die Schwarmform statt. In einem zweiten Test blockierten die Forscher die Produktion des Botenstoffs Serotonin – mit dem gleichen Ergebnis.
Um nun herauszufinden, ob das Serotonin tatsächlich der Hauptauslöser ist, injizierten die Wissenschaftler den Heuschrecken das Serotonin direkt, ohne dass diese zuvor einen Kitzelreiz erhielten. Die Gabe des Botenstoffs allein reichte aus: Die Versuchstiere wandelten sich alle in ihre Schwarmform um.
Hilfe im Kampf gegen die Heuschreckenplage
Die Serie von Experimenten zeigt deutlich, dass der enge Kontakt mit Artgenossen die vermehrte Freisetzung des Serotonins auslöst und dass dieses wiederum den Schlüsselfaktor für die Umwandlung in die Schwarmform darstellt. „Serotonin beeinflusst grundlegend auch wie wir Menschen interagieren und uns verhalten“, so Swidbert Ott von der Cambridge Universität. „Jetzt zu entdecken, dass die gleiche Substanz im Gehirn eines normalerweise scheuen, antisozialen Insekts dieses zu gewaltigen Schwärmen zusammenschließt, ist erstaunlich.“
Nach Ansicht der Wissenschaftler eröffnet diese neue Kenntnis des Auslöse-Mechanismus auch neue Wege, um die verheerenden Schwärme der Heuschrecken zukünftig verhindern zu können. Gleichzeitig aber gibt sie auch wertvolle Hinweise darauf, wie Verhaltensenderungen im Tierreich neurophysiologisch basiert sein können. „Kein anderes biologisches System ist von der Nervenzelle bis zur Population so gut untersucht: Heuschrecken bieten uns ein Beispiel, wie Moleküle ganze Ökosysteme beeinflussen können“, erklärt Steve Simpson, Professor an der Oxford Universität.
(University of Cambridge, 03.02.2009 – NPO)