Von wegen Pioniere: Flechten entwickelten sich womöglich deutlich später als gedacht. Wie phylogenetische Analysen und Fossilvergleiche nahelegen, könnten die Pilz-Algen-Symbiosen erst Millionen Jahre nach komplexen Landpflanzen auf der Erde aufgetaucht sein. Damit widersprechen die Ergebnisse dem gängigen Bild von Flechten als Pionieren des Landlebens.
Flechten sind das klassische Beispiel für eine perfekte Symbiose: Pilze vereinen sich in dieser Lebensgemeinschaft mit einer Alge oder einem Cyanobakterium. Dabei schützen die Pilze ihren Partner vor dem Austrocknen und erhalten im Gegenzug aus der Photosynthese gewonnene Nährstoffe. Dank dieser Vergesellschaftung ist es Flechten gelungen, fast alle Winkel der Erde zu besiedeln. Selbst in so unwirtlichen Lebensräumen wie der Antarktis und unter Bedingungen wie auf dem Mars kommen die Organismen problemlos zurecht.
Aufgrund dieser Eigenschaften gelten Flechten als mögliche Pioniere des Lebens an Land. Sie konnten die zunächst noch eher lebensfeindlichen Landmassen besiedeln und schufen erst dadurch günstige Bedingungen für komplexere Gewächse wie Gefäßpflanzen (Tracheophyta). So fördern Flechten durch die von ihnen ausgeschiedenen Säuren zum Beispiel die Verwitterung von Gesteinsoberflächen und tragen auf diese Weise zur Bildung von Erdreich bei.
Vermeintliche Pioniere
Doch eroberten die symbiotischen Lebensgemeinschaften tatsächlich vor den komplexen Pflanzen das Land? Mithilfe von Fossilien lässt sich diese Frage nicht so leicht beantworten. Denn es gibt nur wenige solcher Zeugnisse, die eindeutig als Flechten identifizierbar sind. Matthew Nelson vom Field Museum in Chicago und seine Kollegen haben daher nun einen anderen Ansatz gewählt – und kommen zu einer überraschenden Erkenntnis.
Um den Ursprung der Flechten besser zu verstehen, rekonstruierten die Forscher die phylogenetischen Stammbäume von flechtenbildenden Schlauchpilzen und Algen. So konnten sie beispielsweise abschätzen, zu welchem Zeitpunkt in ihrer Evolutionsgeschichte bestimmte Pilze die Fähigkeit zur Symbiose mit Algen entwickelten. Diese Ergebnisse glich das Team dann mit dem Alter früher Pflanzenfossilien ab.
Nicht so alt wie gedacht
Die Auswertungen ergaben: „Flechten sind bei weitem nicht so alt, wie wir dachten“, sagt Nelsen. Denn der Ursprung flechtenbildender Pilze liegt den Ergebnissen zufolge auf dem Zeitstrahl weit hinter dem Auftauchen der ersten Tracheophyta. Flechten könnten demnach erst Millionen Jahre nach den komplexen Landpflanzen entstanden sein.
„In Kombination mit dem Mangel an eindeutigen Fossilien findet unsere Arbeit keine Belege dafür, dass Flechten vor den Gefäßpflanzen auftauchten und die globalen Veränderungen während des Neoproterozoikums und frühen Paläozoikums vermittelten“, so das Fazit der Wissenschaftler.
Bestätigen weitere Untersuchungen dieses Ergebnis, wirkt sich dies nachhaltig auf unsere Vorstellungen von der Entstehung des Landlebens aus. „Es formt unser Verständnis der frühen Evolution komplexer Ökosysteme auf der Erde grundlegend um“, konstatiert Nelsen. (Geobiology, 2019; doi: 10.1111/gbi.12369)
Quelle: Field Museum