Nachdem die Ratten ihren Lieblingshebel gefunden hatten, folgte der eigentliche Test: Immer wenn die Tiere auf den von ihnen bevorzugten Hebel drückten, wurde der Boden eines benachbarten Käfigs elektrisiert und der darin sitzende Artgenosse bekam einen unangenehmen Elektroschock an den Pfoten verpasst. Als Folge quiekte das Tier unter Protest. Wie würde die andere Ratte darauf reagieren?
Mitgefühl ist größer als Naschsucht
Es zeigte sich: Tatsächlich schien die meisten Ratten das Leid ihrer Käfignachbarn keineswegs kaltzulassen. Hatten sie den Zusammenhang zwischen ihrer Handlung und dem Elektroschock verstanden, hörten sie auf, ihren Lieblingshebel zu betätigen oder nutzten ihn zumindest seltener. Das Spannende: Dies galt unabhängig davon, ob die Ratten sich vertraut waren oder völlig fremd. Eigene Vorerfahrungen mit Schmerzen verstärkten dabei die Neigung, den anderen zu verschonen.
Wie die Forscher berichten, war das Mitgefühl der Nager offenbar sogar stärker als die Naschsucht. Denn selbst, wenn der Elektroschock-auslösende Hebel doppelt so viele Leckerlis ausspuckte wie der andere, bevorzugten die Ratten die leidfreie Futterstation. Allerdings nur bis zu einem gewissen Punkt: Stellte der mit Schmerzen für andere verbundene Hebel dreimal so viel Zuckernaschereien zur Verfügung, reduzierten die Nager dessen Verwendung nicht mehr.
Spurensuche im Gehirn
Trotz dieser Grenzen der Selbstlosigkeit zeigt dies: „Ratten haben eine Abneigung dagegen, anderen Schaden zuzufügen – wie wir Menschen“, konstatiert Hernandez-Lallement. Welche neurologischen Prozesse aber liegen diesem Phänomen bei den Tieren zugrunde? Bei Menschen ist bekannt, dass der anteriore cinguläre Cortex eine wichtige Rolle für die sogenannte Gefühlsansteckung und somit für empathisches Verhalten spielt. Diese Hirnregion wird aktiv, wenn wir beispielsweise die Schmerzen von Mitmenschen nachempfinden.
Bei Ratten haben Forscher in dem gleichen Bereich des Denkorgans kürzlich Spiegelneurone gefunden – Nervenzellen, die verbreiteter Annahme nach nicht nur beobachtete motorische Bewegungen, sondern auch Emotionen anderer Menschen im Gehirn spiegeln. Die Aktivität dieser Region unterdrückte das Wissenschaftlerteam mithilfe eines lokalen Wirkstoffs bei den Nagern. Das Ergebnis: Plötzlich schien ihnen das leidvolle Quietschen ihrer Nachbarn nichts mehr auszumachen.
Wirklich empathisch oder doch egoistisch?
„Es ist bemerkenswert, dass Ratten und Menschen dieselbe Gehirnregion nutzen, um Schaden für andere zu vermeiden. Die moralische Motivation, die uns davon abhält, unseren Mitmenschen Leid zuzufügen, scheint aus evolutionärer Sicht alt und tief in der Biologie unseres Gehirns und dem anderer Tiere verankert zu sein“, konstatiert Studienleiterin Valeria Gazzola.
Doch bedeutet dies nun, dass Ratten wirklich Mitleid empfinden können? Viele Indizien sprechen zwar dafür, wie die Forscher betonen. Trotzdem gibt es noch eine alternative Erklärung für das Verhalten der Tiere: Sie könnten den Lärm der quiekenden Artgenossen einfach unangenehm finden – ihn also aus Eigennutz vermeiden wollen. „Unsere Daten zeigen nicht, dass Ratten in dem Sinne altruistisch handeln, dass sie jemand anderem nutzen wollen“, erklärt das Team.
Bedeutung für die Psychiatrie
Die meisten Menschen verhindern Leid für andere auch dann, wenn sie selbst nicht Zeuge davon sein müssen. Ob dies bei den Ratten auch so wäre, bleibt unklar. „Unabhängig vom dahintersteckenden Motiv teilen wir jedoch einen Mechanismus, der antisoziales Verhalten verhindert“, sagt Mitautor Christian Keysers.
Diesen Mechanismus besser zu verstehen, ist unter anderem im Kontext psychiatrischer Störungen wichtig, wie die Forscher betonen. So fühlen beispielsweise psychopathische Kriminelle oftmals nicht automatisch mit ihren Opfern mit und können sich dem Mitleiden mitunter sogar bewusst entziehen – eine Eigenschaft, die antisoziales Verhalten fördert. (Current Biology, 2020; doi: 10.1016/j.cub.2020.01.017)
Quelle: Niederländisches Institut für Neurowissenschaften – KNAW
10. März 2020
- Daniela Albat