Lebende Scheren: Spinnen können ihre eigene Seide – eines der robustesten natürlichen Materialien der Welt – scheinbar mühelos mit ihren Kieferklauen zerschneiden. Und sogar kräftige Kohlenstoff- und Kevlar-Fasern stellen kein Problem für die achtbeinigen Jäger dar. Ihr Schneidewerkzeug ist dabei sogar schärfer und effizienter als eine Rasierklinge. Doch wie gelingt den Spinnen dieses Kunststück?
Spinnen sind Superhelden im Mini-Format: Sie können geringste Vibrationen wahrnehmen, ihren Körper auf bis zu 80 g beschleunigen, Beute mit dem Tausendfachen ihrer Körpermasse hochheben und eine Seide spinnen, die zu den robustesten natürlichen Materialien der Welt zählt. Seit Jahren arbeitet die Wissenschaft daran, Spinnenseide für industrielle Anwendungen künstlich nachzuahmen.
Scheren auf acht Beinen
Doch Spinnen haben noch eine weitere „Superkraft“: Sie besitzen Hochleistungs-Scheren. Ihre robuste, selbstgesponnene Seide können sie in weniger als 100 Millisekunden zerteilen. Wie ihnen das gelingt, war bislang allerdings ein Rätsel. Zwar zerteilen die Achtbeiner die Seide in Mundnähe, doch ihre Kieferklauen sind nicht scherenartig genug aufgebaut, um die Seidenfäden einfach durchzubeißen. Produzieren die Achtbeiner stattdessen vielleicht Enzyme, mit denen sie ihre Seide wieder auflösen?
Um das herauszufinden, haben Biologen um Gabriele Greco von der Schwedischen Universität für Agrarwissenschaften in Uppsala mehrere Spinnen vor eine besondere Herausforderung gestellt. Statt ihrer eigenen Seide sollten sie Kohlenstoff- und Kevlar-Fasern durchtrennen. Die Idee: Wenn den Achtbeinern diese Herkulesaufgabe gelingt, können Enzyme nicht maßgeblich für ihr Schneidetalent sein, denn beide Fasern sind völlig anders zusammengesetzt als die Spinnenseide und daher resistent gegen enzymatische Angriffe.
Kohlenstoff und Kevlar? Kein Problem
Und tatsächlich: Den Spinnen gelang es, die in ihren Terrarien gespannten Industriefasern zu zertrennen und ihre Überreste als Stützen für eigene Netze aus Spinnenseide zu verwenden, wie Greco und seine Kollegen beobachteten. Das Zerschneiden der Fasern dauerte dabei jeweils über zehn Sekunden – also deutlich länger als das Zerteilen von Spinnenseide, aber immer noch überraschend kurz. Wie war den Achtbeinern das ohne Hilfe von Enzymen gelungen?
„Interessanterweise waren die Bruchflächen der Seiden- und Kohlenstofffasern, die von den Spinnen zerteilt wurden, ähnlich wie bei künstlichen Fasern, die mit einer Schere geschnitten wurden“, berichten Greco und seine Kollegen. Offenbar fungiert der Kiefer der Spinnen also doch als eine Art Schere, obwohl er nicht wie eine aufgebaut ist.
Klauen wie Steakmesser
Aufnahmen unter dem Rasterelektronenmikroskop enthüllten, wie das möglich ist: Entscheidend ist demnach der Mikroaufbau der Spinnenklauen. Ihre Kanten sind ähnlich gezackt wie kleine Steakmesser und dadurch effiziente Schneidewerkzeuge. Indem die Zacken sich in das Material bohren, minimiert sich die zum Durchtrennen erforderliche Kraft. Auch an den Zähnen von Haien und an denen des Tyrannosaurus rex wurde ein solcher Mikro-Wellenschliff bereits beobachtet.
Wie Greco und seine Kollegen feststellten, sind die Zacken der Spinnenklauen allerdings nicht gleichmäßig verteilt, sondern nehmen von der Spitze aus zu. Eine zu schneidende Faser gleitet dadurch so lange nach innen, bis sie in einer gezackten Kante von vergleichbarer Größe hängen bleibt. Das wiederum minimiert die erforderliche Kraft noch weiter und lässt Spinnenklauen robuste Fasern effizienter zerteilen als jede Rasierklinge.
Diese Erkenntnisse könnten sich in Zukunft auch industriell nutzen lassen, wie Seniorautor Nicola Pugno von der Queen Mary University of London erklärt: „Die neue Theorie könnte dazu beitragen, schärfere und leistungsfähigere Werkzeuge zu entwickeln, die von Spinnenklauen inspiriert sind. Zum Beispiel zum Schneiden von Holz, Metall, Stein, Lebensmitteln oder Haaren.“ (Advanced Science, 2024; doi: 10.1002/advs.202406079)
Quelle: Università di Trento