Tiere, die in der Stadt leben, sind vielen neuen und potenziell stressvollen Situationen ausgesetzt. Leiden sie deshalb auch unter den negativen Folgen des Stadtlebens? Die Antwort ist „Nein“, wie jetzt Wissenschaftler herausgefunden haben. In der Stadt geborene Amseln zeigen eine geringere hormonelle Stressantwort als Amseln aus naturnahen Wäldern. Diese Anpassung hat offenbar auch eine genetische Basis, wie die Forscher in der Zeitschrift Ecology berichten.
Viele Tierarten besiedeln sehr erfolgreich unsere Städte. Dazu gehört auch die Amsel, die vom Lebensraum Stadt durch das wärmere Mikroklima und durch das erhöhte Nahrungsangebot profitiert. Allerdings sind diese so genannten Kulturfolger auch vielen neuen und potenziell stressvollen Störungen ausgesetzt, wie beispielsweise die permanente Präsenz des Menschen, hohe Dichte an Haustieren, erhöhter Lärm- und Lichtpegel sowie starker Stadtverkehr. Wirbeltiere – so auch der Mensch – bewältigen kurzfrostige Stress durch die Aussschüttung von Stresshormonen. Hölt der Stress aber länger an, können die chronisch erhöhten Stresshormone erhebliche gesundheitliche Folgen haben.
Amseln als Testobjekt
Bis jetzt war nicht bekannt, ob sich Stadttiere an den Dauerstress des Stadtlebens auch durch Änderungen in der physiologischen Stressantwort angepasst haben. Jesko Partecke, Ingrid Schwabl und ihre Kollegen vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in Andechs/Seewiesen sind dieser Frage nun nachgegangen. Sie zogen Amsel-Nestlinge aus München und aus einem 40 Kilometer von München entfernten Waldgebiet von Hand auf und hielten beide Gruppen über einen Zeitraum von einem Jahr zusammen unter exakt denselben kontrollierten Umweltbedingungen.
Im ersten Herbst und im ersten Winter sowie im ersten Frühjahr setzte Partecke die Stadt- und Waldamseln jeweils unter gleichen standardisierten Bedingungen einer akuten Stresssituation aus und sammelte währenddessen Blutproben, um die Konzentration von Kortikosteron, dem Stresshormon von Vögeln, zu bestimmen. Unter normalen, das heißt "stressfreien", Bedingungen unterschieden sich Stadt- und Waldamseln nicht in ihrer Korikosteron-Ausschüttung. Auch zeigten beide Gruppen eine ähnlich akute hormonelle Stress-Antwort während ihres ersten Herbstes. Dies änderte sich jedoch drastisch während des ersten Winters und des ersten Frühjahrs: Stadtamseln zeigten nun eine deutlich verminderte Stressantwort als die Waldamseln.
Stadtiere physiologisch angepasst
"Diese Ergebnisse belegen erstmals, dass das Stadtleben verhaltensphysiologische Mechanismen, die zum Überleben notwendig sind, in Wildtieren deutlich verändert", erklärt Partecke. Eine solche reduzierte hormonelle Stressantwort könnte allgegenwärtig und vermutlich bei vielen Tierarten, die in Städten erfolgreich leben, erforderlich sein. Die Wissenschaftler vermuten, dass der Unterschied in der hormonellen Stressantwort zwischen Stadt- und Waldamseln genetisch festgelegt ist und wahrscheinlich das Ergebnis der extremen Selektionsfaktoren in der Stadt, wodurch jene Individuen einen Vorteil erlangen, die besser mit den "urbanen Stressfaktoren" zurechtkommen.
Warum sich die beiden Vogelgruppen bei ihrer Stressantwort nicht in ihrem ersten Herbst unterscheiden, ist eine Frage, die die Wissenschaftler noch nicht beantworten können. "Möglicherweise wird die verringerte Stressantwort erst später im Leben ausgebildet", spekuliert Partecke. Zumindest möchte er gerne überprüfen, ob auch frei lebende Stadtamseln eine verminderte physiologische Stressantwort im Vergleich zu ihren frei lebenden Artgenossen in den Wäldern zeigen.
(MPG, 31.08.2006 – NPO)