Verstrahltes Refugium: Im Sperrgebiet von Tschernobyl tummeln sich wieder jede Menge wilde Tiere. Trotz Strahlung leben in der menschenleeren Zone inzwischen genauso viele Elche, Hirsche, Rehe und Wildschweine wie in unverstrahlten Schutzgebieten der Region, wie Forscher im Fachmagazin „Current Biology“ berichten. Wölfe sind sogar siebenmal häufiger als anderswo. Ob und welche möglichen Strahlenfolgen diese Tiere allerdings haben, ließ sich nicht feststellen.
Fast 30 Jahre nach dem Atomunfall von Tschernobyl im April 1986 ist das Gebiet rund 30 Kilometer um das Kraftwerk herum noch immer eine menschleere, verstrahlte Sperrzone. Biologen erforschen dort, ob und wie sich Tiere und Pflanzen an die erhöhte Radioaktivität anpassen. So entwickelten Nadelbäume dort teilweise genetische Veränderungen und Vögel haben ihren Zellstoffwechsel an die erhöhte Strahlung angepasst.
Wieder häufig trotz Strahlung
Wie sich die Strahlung auf größere Säugetiere auswirkt, haben Tatiana Deryabina von der Polessye State Radioecological Reserve in Gomel und ihre Kollegen nun im weißrussischen Teil der Sperrzone untersucht. Anhand von Spuren und Zählungen per Helikopter ermittelten sie, wie hoch die Populationsdichte von Hirschen, Rehen, Wildschweinen, Elchen und Wölfen im Sperrgebiet heute ist.
Das Ergebnis: Entgegen vorherigen Annahmen sind diese Wildtiere in Tschernobyl heute genauso häufig wie in vier unverstrahlten Schutzgebieten der Region. Die Zahl der Wölfe ist in der Sperrzone sogar siebenmal höher als anderswo. Frühere Studien hatten kurz nach dem Atomunglück deutliche Einbrüche in der Populationsdichte dieser Wildtiere festgestellt. Doch wie die Forscher berichten, begannen sich die Bestände bereits in den ersten zehn Jahren nach dem Unfall zu erholen.
Frei von menschlichem Einfluss
„Es ist sehr wahrscheinlich, dass heute sogar mehr Wildtiere in Tschernobyl leben als vor dem Unfall“, sagt Koautor Jim Smith von der University of Portsmouth. „Das heißt jedoch nicht, dass die Strahlung gut für die Natur ist. Es zeigt nur, dass die Auswirkungen der menschlichen Besiedlung, darunter die Jagd, Land- und Forstwirtschaft, noch schlimmer sind.“
Dadurch, dass das Sperrgebiet von Tschernobyl seit fast 30 Jahren frei von Besiedlungsdruck und anderen menschlichen Einflüssen ist, wurde es offenbar zum Refugium für große Wildtiere, die in anderen Teilen Russlands und Weißrusslands immer weniger freien Lebensraum und Ruhe finden. Denn in den ungeschützten Gebieten gehen die Zahlen stetig zurück, wie die Forscher berichten.
Individuelle Strahlenfolgen nicht ausgeschlossen
„Unsere Daten zeigen, wie widerstandsfähig und flexibel die Natur reagiert, wenn sie von direktem Druck wie dem Verlust von Habitaten, der Fragmentierung und Verfolgung befreit ist“, betont Koautor Jim Beasley von der University of Georgia. Die Sperrzone von Tschernobyl liefere einen Eindruck, wie viele Wildtiere es heute in vielen Gegenden Europas geben würde, wenn der Mensch nicht wäre.
Allerdings: Inwieweit die noch immer erhöhte Strahlung in der Sperrzone von Tschernobyl die einzelnen Tiere schädigt, ließ sich in dieser Erhebung nicht feststellen. Es ist daher nicht auszuschließen, dass ihre Lebensdauer oder Fortpflanzung verringert sind. Die hohen Populationsdichten deuten aber darauf hin, dass diese Effekte nicht stark genug sein können, um sich auf den Bestand auszuwirken. (Current Biology, 2015; doi: 10.1016/j.cub.2015.08.017)
(Cell Press/ University of Georgia, 06.10.2015 – NPO)