Ihre Rufe haben sie verraten: Bisher dachte man, dass die Buckelwale des Südpolarmeeres im Winter alle gen Norden in wärmere Gewässer ziehen. Aber Aufzeichnungen des Antarktis-Unterwasserobservatoriums PALAOA belegen nun, dass einige Wale offenbar keine Lust aufs Wandern haben: Sie bleiben den ganzen Polarwinter hindurch in den antarktischen Gewässern. Warum, ist noch unklar, es könnte sich aber um junge Walkühe handeln, die die kräftezehrende 7.000 Kilometer lange Reise scheuen, berichten die Forscher im Fachmagazin „PLOS ONE“.
Manchmal brauchen auch Wissenschaftler das entscheidende Quäntchen Glück, um auf neue Forschungsideen zu kommen. So zum Beispiel Ilse Van Opzeeland, Meeresbiologin am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI). Als sie eines Aprilmorgens ihre Bürotür aufschloss und wie üblich den Livestream des PALAOA-Unterwasserobservatoriums auf dem Schelfeis der Antarktis einschaltete, tönten aus dem Lautsprecher plötzlich Rufe von Buckelwalen – und das zu einer Zeit, in der die Meeressäuger längst 7.000 Kilometer entfernt in den warmen Gewässern Afrikas hätten schwimmen sollen.
Rege Kommunikation mitten im Polarwinter
„Ich war total überrascht, denn bis zu diesem Tag galt die Lehrbuchmeinung, dass Buckelwale nur in den Sommermonaten in die Antarktis kommen“, erzählt die Wissenschaftlerin. Und selbst dann, so glaubte man bis dahin, würden sie auf der Suche nach Krill nur bestimmte eisfreie Regionen auf Höhe des 60. südlichen Breitengrades ansteuern. „Unser PALAOA-Observatorium aber überwacht ein Gebiet auf 70 Grad Süd – also viel weiter südlich als die bekannten Futtergründe. Die Tiere an einem Wintermorgen in der Nähe unseres Observatoriums zu hören, war vor diesem Hintergrund eine doppelte Überraschung“, so die Forscherin.
Angetrieben von der Frage, ob der Winter-Abstecher der Buckelwale in das östliche Weddellmeer ein einmaliges Ereignis war, entwickelte Van Opzeeland ein Verfahren zur automatischen Buckelwal-Lauterkennung und überprüfte alle PALAOA-Aufnahmen der Jahre 2008 und 2009 auf akustische Lebenszeichen der Tiere. „Unsere Aufnahmen enthalten sowohl variable, hochfrequente Laute der Wale als auch wiederkehrende Rufe, die wie ein vermeintliches Stöhnen klingen. Auf letztere haben wir uns in unserer Analyse konzentriert“, erzählt die Meeresbiologin.
Eisfreie Stellen als Nische
„Heute wissen wir, dass sich die Buckelwale im Jahr 2008 mit Ausnahme der Monate Mai, September und Oktober durchgängig in der Nähe des Observatoriums aufgehalten haben. Im Folgejahr fehlten sie lediglich im September. Demzufolge ist es sehr wahrscheinlich, dass in beiden Jahren Buckelwale im östlichen Weddellmeer überwintert haben“, sagt die Wissenschaftlerin. Eine mögliche Erklärung dafür könnte das antarktische Meereis liefern. Denn in der Nähe des Observatoriums entsteht im Winter regelmäßig ein eisfreies Gebiet, auch Polynia genannt. Es wird durch ablandige Winde hervorgerufen, welche die Eisschollen auf das Meer hinausdrücken.
„Wir vermuten, dass die Buckelwale in dieses eisfreie Gebiet schwimmen“, erklärt Van Opzeeland. „Schließt sich die Polynia dann wieder, ziehen auch die Wale weiter und verlassen jenen Radius von 100 Kilometern, den unsere Unterwassermikrofone überwachen. Beweise für dieses Verhalten haben wir allerdings noch nicht.“
Junge Walkühe als Überwinterer?
Was sich die Wale in den Wintermonaten erzählen und um welche Tiere es sich handelt, kann die AWI-Wissenschaftlerin anhand der Unterwasserklänge leider nicht sagen: „Wahrscheinlich stammen die Laute von jungen Walkühen, die noch nicht trächtig sind und sich deshalb die mehr als 7.000 Kilometer lange, sehr kräftezehrende Wanderung in die Küstengewässer Afrikas sparen.“ Ein Buckelwal-Weibchen büßt bis zu 65 Prozent seiner Körpermasse ein, wenn es ein Kalb austrägt und säugt. Vor diesem Hintergrund erscheint es aus Sicht der jungen Walkühe durchaus sinnvoll, den Winter über in der Antarktis zu bleiben.
Außerdem bietet das Küstengebiet des östlichen Weddellmeeres den Tieren sehr wahrscheinlich auch in der kalten Jahreszeit so reichhaltige Krillvorkommen, dass die Wale genügend Futter finden, um sich Fettreserven für die Fortpflanzung und die lange Reise im Folgejahr anzufressen. Diese neuen Erkenntnisse untermauern die Bedeutung des Südpolarmeeres als Lebensraum für Buckelwale. „Gerade vor dem Hintergrund der Diskussion um Meeresschutzgebiete zeigen unsere Ergebnisse, dass nicht nur die bekannten Futtergründe in der Region um 60 Grad Süd für die Buckelwale wichtig sind, sondern auch die Gewässer weiter südlich. Die Tiere kommen in diesen Gebieten fast das ganze Jahr über vor“, sagt die Biologin.
Rufe verraten auch die Herkunft
Sie und ihr Team aus der AWI-Arbeitsgruppe „Ozeanische Akustik“ wollen jetzt herausfinden, zu welcher Population die Buckelwale aus dem östlichen Weddellmeer gehören. Dazu vergleichen die Wissenschaftler die markante Rufe und Laute aus den PALAOA-Aufnahmen zum Beispiel mit Buckelwal-Gesängen aus den Küstengewässern Gabuns und Mosambiks. „Jede Buckelwal-Population entwickelt ihre eigenen Gesänge. Die Tonfolgen ergeben also einen akustischen Fingerabdruck, anhand dessen wir hoffentlich sagen können, in welchen Gewässern die Antarktis-Überwinterer ihre Kinderstube haben“, so die Meeresbiologin.
Vermutlich stammen die Tiere aus der Küstenregion des südlichen Afrikas. „Wir wissen von anderen Buckelwal-Populationen der Südhalbkugel, dass sie in jedem Frühjahr auf relativ geradem und direktem Wege Richtung Süden schwimmen. Sollte dies auch für die Wale aus dem Weddellmeer gelten, liegt es nahe, dass sie zu den Populationen an der Ost- oder Westküste des südlichen Afrikas gehören“, so Van Opzeeland.
Außerdem wertet das AWI-Team derzeit Daten einer Kette von Unterwasserrekordern aus, welche die Wissenschaftler vor einigen Jahren entlang des nullten Längengrades am Meeresboden zwischen Südafrika und der Antarktis verankert haben: „Wir wissen, dass Buckelwale in den Gebieten, in denen sie ihre Kälber auf die Welt bringen sowie auf ihrer Wanderung singen und dass sich ihre Gesänge von Jahr zu Jahr verändern. Weitestgehend unbekannt ist allerdings, wann und wie sich dieser Wandel vollzieht. Mithilfe der Aufnahmen unserer Streckenposten können wir diesen Geheimnissen vielleicht auf die Spur kommen“, sagt Van Opzeeland. Sie also wird sich die Buckelwalklänge garantiert noch viele Male ganz genau anhören. (PLOS ONE, 2013; doi: 10.1371/journal.pone.0073007)
Mit diesem PALOA-Livestream kann man live mitverfolgen, was es im antarktischen Meer zu hören gibt.
(Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, 09.09.2013 – NPO)