Neurobiologie

Überraschung fördert falsche Erinnerungen

Unerwartetes schaltet das Gedächtniszentrum in den "Update"-Modus

Erinnerungen
Unerwartete Ereignisse können dazu beitragen, dass unser Gehirn Erinnerungen nachträglich verfälscht. © metamorworks/ Getty images

Unbewusste Verfälschung: Unsere Erinnerungen sind weniger verlässlich als man glaubt – und überraschende Anblicke oder Erfahrungen tragen noch dazu bei, unser Gedächtnis zu manipulieren, wie nun ein Experiment aufgedeckt hat. Sahen Testpersonen darin ein abrupt durch etwas anderes unterbrochenes Video, war hinterher ihre Erinnerung an dieses und ähnliche Videos verfälscht. Die Ursache für diesen Effekt liegt im Hippocampus – dem Gedächtniszentrum unseres Gehirns.

Lange hielt man unsere Erinnerung als eine Art Fotoalbum des Erlebten: Einmal abgespeichert galten die Gedächtnisinhalte als stabil und unveränderlich. Doch inzwischen weiß man, dass dies nicht so ist. Stattdessen kann jedes sich ins Bewusstsein-Rufen die Gedächtnisinhalte verändern. Schon die ungeschickte Befragung eines Tatzeugen kann seine Erinnerung an das Geschehen verfälschen und nicht selten mischt unser Gehirn bloß Erzähltes unter die von uns selbst erlebten Eindrücke.

Studien haben bereits gezeigt, dass solche falschen Erinnerungen besonders oft bei Schlafmangel auftreten, auch Stromreize können den Eindruck etwas vermeintlich Bekannten oder Erlebten hervorrufen.

Videos mit Überraschungseffekt

Einen weiteren Auslöser haben nun Alyssa Sinclair von der Duke University in Durham und ihre Kollegen identifiziert. Für ihre Studie hatten sie Testpersonen am ersten Versuchstag 70 verschiedene kurze Videoclips vorgespielt. Am Tag darauf sahen die Teilnehmer die Videos erneut, während ihre Hirnaktivität mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) aufgezeichnet wurde. Die Hälfte der Videos wurde dabei jedoch abrupt und ohne Vorwarnung an einem entscheidenden Moment unterbrochen.

Am dritten Tag folgte der eigentliche Test: Die Testpersonen sollten sich so viel von den Videoinhalten wie möglich wieder ins Gedächtnis rufen und diese erzählen. „Ein Teil der Personen konnte sich gut und unglaublich genau an das Gesehen erinnern“, berichtet Sinclair. „Andere hingegen hatte eine irrsinnige Mengen falscher Erinnerungen darunter. Es war manchmal richtig schwer, dabei ernst zu bleiben.“

Umschalten im Hippocampus

Doch bei diesen falschen Erinnerungen zeigte sich ein Muster: Besonders oft verfälscht und gestört war die Erinnerung an die Videos, die unerwartet unterbrochen worden waren. Wie die Forscher erklären, hat dies mit dem Element der Überraschung zu tun: Wenn ein Ereignis unseren Erwartungen widerspricht, verändert dies die Reaktion des Hippocampus, dem für das Abspeichern, Wideraufrufen und Verändern zuständigen Hirnareal.

Sahen die Testpersonen am zweiten Tag ungestört die Wiederholung eines schon vom Vortag bekannten Videos, dann führte dies zu einer Konsolidierung der schon abgespeicherten Erinnerung – sie wurde verfestigt. Gab es jedoch eine überraschende Unterbrechung, führte dies dazu, dass der Hippocampus vom bewahrenden Modus in den Update-Modus umschaltete, wie auch die Hirnaktivität zeigte.

Upgedatet statt verfestigt

„Überraschung betrifft das gesamte Gehirn und aktiviert mehrere neuromodulatorische Systeme“, erklärt Sinclair. „Das Unerwartete erzeugt Bedingungen, die ein Updaten der Erinnerungen begünstigen und die den Hippocampus dazu bringen, bestehende Gedächtnisinhalte zu vergessen oder zu verändern.“ Dabei werden Hirnbotenstoffe ausgeschüttet, die das Abspeichern der unerwarteten Ereignisse verstärken, aber auch schon Gespeichertes verändern und durcheinander bringen können.

Auffallend dabei: Verfälschte Erinnerungen betreffen oft nah verwandte Gedächtnisinhalte. Trat die Überraschung beispielsweise bei einem Baseball-Video auf, war oft auch die Erinnerung an andere Sportvideos gestört oder durcheinander gewürfelt. „Es gab einige Beispiele, in denen eine Testperson einen Inhalt aus einem Video gedanklich in ein anderes verfrachtet hatte“, erzählt Sinclair.

Nach Ansicht der Wissenschaftler unterstreicht dies, dass wie flexibel und anpassungsfähig unser Gedächtnis ist. Im Prinzip ist dies positiv, denn erst dies ermöglicht es uns, immer wieder Neues zu lernen und falsch Gelerntes zu korrigieren. Andererseits aber kann dies dazu führen, dass uns die eigene Erinnerung trügt. (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2021; doi: 10.1073/pnas.2117625118)

Quelle: Duke University

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