Augen nachtaktiver Säugetiere verfügen über besonders viele hochempfindliche Stäbchen-Fotorezeptoren. Das ist der für das Nachtsehen zuständige Sehzelltyp. Schließlich müssen sie Licht wahrnehmen, dessen Intensität millionenfach unter der des Tageslichts liegt. Ein internationales Forscherteam hat nun gezeigt, dass sich der nächtliche Lebensstil und die damit verbundenen Herausforderungen dauerhaft auf die Organisation der Zellkerne in den Stäbchen ausgewirkt haben: Dicht gepackte inaktive und weniger dicht gepackte aktive Bereiche des Erbmoleküls DNA sind anders verteilt als bei den übrigen Körperzellen fast aller Organismen vom Einzeller bis zum Vielzeller – einschließlich der Stäbchen tagaktiver Säuger.
„Es gibt auch eine Erklärung für diese Abweichung“, sagt Boris Joffe von der Universität München, der zusammen mit seinen Kollegen Irina Solovei und Professor Thomas Cremer an der neuen Studie in der Fachzeitschrift „Cell“ beteiligt war. „Die Zellkerne der nachtaktiven Säuger fungieren in dieser speziellen Anordnung als Sammellinsen, die das eintreffende Licht bündeln. Computersimulationen zeigen, dass mehrere solcher Zellkerne übereinander das Licht sehr effektiv zu den lichtsensitiven Außensegmenten der Stäbchen lenken.“
Die veränderte Organisation der Stäbchen-Zellkerne verbessert demnach das nächtliche Sehen der Tiere – und liefert neue Erkenntnisse zur Evolution der Retina bei Säugetieren und zum Verständnis der räumlichen Organisation des Zellkerns.
Zellkerne als Verpackungskünstler
Das Erbmolekül DNA einer diploiden Säugerzelle ist zwei Meter lang, muss aber in den nur wenige Mikrometer großen Zellkern passen. Die fadenförmigen Moleküle des Erbmaterials sind mit Proteinen als so genanntes Chromatin verpackt. Dabei sind DNA-Abschnitte, deren genetische Information gerade benötigt wird, weniger eng gepackt und besser zugänglich. Dieses so genannte Euchromatin befindet sich typischerweise in inneren Bereichen des Zellkerns.
Ein erheblicher Teil des Heterochromatins mit den „nicht benötigten“ DNA-Bereichen liegt dagegen an der Peripherie des Zellkerns. Diese Art der Organisation hat sich im Lauf der letzten 500 Millionen Jahre bei fast ausnahmslos allen höheren Organismen etabliert.
„Diese Anordnung ist so universell, dass man von der ‚konventionellen Architektur‘ des Zellkerns sprechen kann“, meint Joffe, der am Münchener Biozentrum forscht. „Umso überraschender ist die jetzige Erkenntnis, dass es doch prinzipielle Unterschiede bei der Anordnung gibt – und dass diese von der Lebensweise abhängen.“
Ungewöhnliche Architektur der Zellkerne
Ein interdisziplinäres Team von Forschern der Universität München, des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt und des Cavendish Laboratory in Cambridge konnte zeigen, dass bei nachtaktiven Säugetieren die Anordnung des Chromatins in den Stäbchenkernen genau umgekehrt ist: Das dicht gepackte Heterochromatin befindet sich im Zellkern-Inneren, während das weniger dicht gepackte Euchromatin mit den aktiven DNA-Bereichen an der Peripherie liegt.
Die Erklärung für die ungewöhnliche Architektur dieser Zellkerne liegt in der Biologie der Sinneswahrnehmung. Beim Menschen und bei allen anderen Wirbeltieren muss das Licht erst die Netzhaut, die Retina, durchdringen, um auf die lichtempfindlichen äußeren Teile der Fotorezeptoren zu stoßen. Und hier stehen die nachtaktiven Tiere vor einem Dilemma: Sie brauchen besonders viele Stäbchen zur Detektion des schwachen Lichts, wodurch aber ihre Retina dicker wird und mehr Licht durch Streuung verliert, bevor es die Außensegmente der Fotorezeptoren erreicht. Zur Lösung des Problems machte sich die Evolution eine physikalische Besonderheit des dicht gepackten Heterochromatins zunutze.
Wegen seiner höheren Packungsdichte wirkt Heterochromatin stärker lichtbrechend als Euchromatin. Dieser Effekt kommt nicht zum Tragen, wenn das Heterochromatin in der Peripherie des Zellkerns liegt. Wenn es sich dagegen im Inneren des Zellkerns zusammenballt, wirkt das Heterochromatin wie eine winzige Sammellinse. Weil die Stäbchenkerne in Säulen angeordnet sind, kommen mehrere dieser Mikrolinsen übereinander zu liegen. Das an sich wenig intensive Licht wird so – das zeigen Computersimulationen – fast ohne Streuverluste gebündelt und durch die Retina geleitet, es trifft fokussierter auf die lichtempfindlichen Außensegmente der Fotorezeptoren.
Neue Erkenntnisse über die frühe Evolution der Säugetiere
Die ungewöhnliche Architektur der Stäbchen-Zellkerne liefert nach Angaben der Forscher zudem neue Erkenntnisse zur frühen Evolution der Säugetiere. Denn die besondere Anordnung des genetischen Materials muss schon vor mehr als hundert Millionen Jahren erstmals aufgetreten sein. Zu dieser Zeit haben sich die Vorfahren der heutigen Säugetiere an ein nachtaktives Leben angepasst, um den damals dominanten fleischfressenden Reptilien zu entgehen. Während die nachtaktiven Nachfahren die invertierte Architektur der Stäbchenkerne beibehalten haben, kehrten später tagaktiv gewordene Nachfahren – auch wir Menschen – zur konventionellen Organisation zurück.
„Das bestätigt uns die Überlegenheit der konventionellen Kernarchitektur“, so Joffe. „Die von uns gefundene invertierte Zellkernorganisation bringt offensichtlich noch unbekannte Nachteile mit sich. Eine mögliche Erklärung besteht darin, dass die konventionelle Architektur es für Chromosomen leichter macht, die aktiven Kernbereiche gemeinsam zu nutzen. Aber bei den nachtaktiven Säugetieren scheint der Vorteil verbesserter Nachtsicht überwogen zu haben.“
(idw – Universität München/Max-Planck-Gesellschaft, 17.04.2009 – DLO)