Ein Unterschied wie Tag und Nacht: Im wachen Zustand bilden Neuronen im Gehirn klangspezifische Verbände, um Geräusche zu verarbeiten. Unter Narkose reagieren die Hirnzellen zwar auch auf Geräusche, aber nicht klangspezifisch, wie Forschende jetzt herausgefunden haben. Interessant auch: Der Thalamus, der als Torhüter für Reize fungiert, ist auch unter Narkose normal aktiv – der Cortex ignoriert seine spezifischen Eingaben jedoch.
Bei einer Narkose fällt unser Körper in einen tiefen Betäubungsschlaf. Die Narkose-Medikamente schalten unser Schmerz- und Druckempfinden aus, sodass problemlos operative Eingriffe stattfinden können. Doch was passiert währenddessen mit unserem Bewusstsein? Ist es auch komplett lahmgelegt? Was kann unser Gehirn unter Narkose noch wahrnehmen und was nicht?
Bei der Narkose-Forschung spielt die sogenannte Daueraktivität unseres Gehirns eine wichtige Rolle. Die Regionen im Gehirn, die Sinneseindrücke wahrnehmen, sind nämlich durchgehend aktiv, selbst wenn gerade überhaupt keine Sinnesreize eingehen. So sind zum Beispiel auf Hörreize spezialisierte Neuronen auch bei völliger Stille „angeschaltet“. Ob das bedeutet, dass wir auch unter Narkose noch gezielt Geräusche einordnen können, war lange unklar.
Töne für Mäuseohren
Dieser Frage hat sich nun ein Team um Anton Filipchuk von der Universität Paris-Saclay mit Experimenten an Mäusen genähert. Die Wissenschaftler wollten herausfinden, wie die Gehirne der Mäuse auf Geräusche reagieren, einerseits im wachen Zustand und andererseits unter dem Einfluss dreier Narkosemittel. Dafür warfen sie einen genaueren Blick auf den auditiven Kortex der Tiere, jenen Bereich der Großhirnrinde, der Hör-Reize verarbeitet.
Sie spielten den Tieren einen Satz von 50 vordefinierten Tönen vor und untersuchten, wie ihre Hör-Neuronen sowohl im wachen Zustand als auch unter Narkose darauf reagierten. Mit einer speziellen optischen Aufzeichnungstechnik konnte das Team dabei die Aktivität von fast tausend Neuronen im auditiven Kortex und im Thalamus der Mäuse messen. Letzterer ist ein eng mit der Großhirnrinde verknüpftes Zentrum im Zwischenhirn, das für die Reizweiterleitung eine wichtige Rolle spielt. Die vorgespielten Töne unterschieden sich in Komplexität und Frequenz.
„Kreative“ Muster im Wachzustand
Das Ergebnis: Im wachen Zustand führten die Geräusche dazu, dass jeweils hunderte Neuronen in der Hörrinde gemeinsam aktiv wurden und den Sinnesreiz verarbeiteten. Dieses Aktivitätsmuster war laut Forschenden bei jedem Geräusch anders und individuell. Je nach Qualität des Hörreizes werden jeweils verschiedene Neuronenverbände aktiv.
Damit hob sich die Neuronenaktivität, die durch die Geräusche entstand, im wachen Zustand deutlich von der hintergründigen Daueraktivität hab. „Die Großhirnrinde ist im Wachzustand kreativer und erfindet als Reaktion auf jeden Ton neue Muster neuronaler Aktivität“, erklärt Alain Destexhe, ein Kollege von Filipchuk. Nach Ansicht des Teams sind diese Netzwerke koordinierter Aktivität die Manifestation der Sinneswahrnehmung.
Abgestumpfte Reaktion unter Narkose
Doch wie sieht es im betäubten Gehirn aus? Auch unter Narkose reagierte der auditive Kortex der Mäuse auf Geräusche, indem Verbände aus hunderten Neuronen aktiv wurden. Allerdings waren diese Verbände nicht spezifisch für die verschiedenen Töne, so wie die Forschenden es im Wachzustand beobachtet hatten. Stattdessen waren die Verbände nun Teil der Daueraktivität. „Wir konnten direkt zeigen, dass viele Neuronen unter der Anästhesie ihre Fähigkeit zur spezifischen Reaktion auf Töne verloren“, berichten die Wissenschaftler.
Wie sie erklären, muss das Gehirn deshalb mit weniger aktivierbaren Nervenzellen arbeiten. Es greift infolgedessen auf jene Neuronenverbände zurück, die auch schon während der unspezifischen Daueraktivität aktiv sind. Nach Ansicht der Wissenschaftler könnte diese eher allgemein gehaltene Neuronenaktivität erklären, warum Mäuse – und wahrscheinlich auch Menschen – Geräusche unter Narkose nicht mehr so gut einordnen können wie im wachen Zustand.
Thalamus bleibt auch unter Narkose fit
Die Auswertung zeigte jedoch auch, dass der Thalamus – der Torhüter für äußere Reize – auch unter Narkose noch sein typisch differenziertes Reaktionsmuster zeigte. „Diese Tatsache deutet auf ein gewisses Maß an funktionalem Verbindungsverlust zwischen den beiden Hirnregionen hin, denn der narkotisierte Cortex scheint die von diesen Eingaben repräsentierten Unterschiede einfach zu ignorieren“, schreiben Filipchuk und seine Kollegen.
Diese unterschiedlichen Reaktionen von Hörrinde und Thalamus bestätigen ihrer Ansicht nach, dass der Cortex und seine Aktivitätsmuster den entscheidenden Unterschied zwischen Wachheit und Betäubungsschlaf ausmachen. Dies stützt Theorien, nach denen der Verlust des Bewusstseins mit einem Kollaps bestimmter Verarbeitungsprozesse, aber auch einem Verlust der funktionalen Konnektivität im Gehirn einhergeht. (Nature Neuroscience, 2022, doi: 10.1038/s41593-022-01168-5)
Quelle: Nature Neuroscience. Human Brain Project