Skurriles Wesen: Ein 100 Millionen Jahre alter Bernsteinklumpen aus Myanmar hat ein Raubinsekt mit ungewöhnlichen Beutefang-Strategien konserviert. Das wanzenähnliche Tier besaß gestielte Augen, die ihm eine 360-Grad-Sicht ermöglichten und beim Aufspüren von Beute halfen. Um diese dann zu fangen, nutzte die Urzeit-Raubwanze ihre mit klebrigem Harz bedeckten Vorderfüße. Ein ungewöhnlich langer Stechrüssel diente zum Aussaugen der Beute. Wegen dieser ungewöhnlichen Merkmalskombination ordnen die Forscher das Insekt sogar in eine eigene, neue Familie ein.
Bernstein ist eine Zeitkapsel: In dem erstarrten Baumharz können Pflanzenteile und Tiere über Jahrmillionen nahezu perfekt konserviert bleiben. Selbst Miniatur-Dinosaurier, fragile Blüten und die ältesten Spermien der Welt wurden schon in Bernsteinklumpen gefunden. Wissenschaftlern ist es auch schon gelungen, DNA aus in Bernstein konservierten Insekten zu extrahieren – allerdings waren diese erst wenige Jahre alt. Ob es eines Tages gelingen könnte, beispielsweise Erbgut von Dinosauriern aus Bernstein zu gewinnen, ist weiterhin eher fraglich.
Langer Saugrüssel und Rundumsicht-Augen
Ein besonders interessantes Bernstein-Fossil haben nun Paläontologen um George Poinar von der Oregon State University entdeckt. In einem rund 100 Millionen Jahre alten Bernsteinklumpen aus Myanmar stießen sie auf ein nur rund fünf Millimeter kleines Insekt, das heutigen Raubwanzen ähnelte. Wie diese besaß der neue Fund einen länglichen Kopf mit einem Stechrüssel, der zum Aussaugen der Beute genutzt diente. Der Stechrüssel des Bernstein-Fossils war jedoch extrem lang und unter den Körper geklappt – er reicht fast bis an die Spitze des Hinterleibs.
Noch ungewöhnlicher jedoch: Die großen Komplexaugen der urzeitlichen Raubwanze saßen auf kurzen Stielen und ragten so deutlich über Kopf und Körper hinaus. Zusätzliche Einzelaugen saßen auf einer Scheibe hinter diesen Komplexaugen. „Diese Augen boten dem Tier eine klare, 360-Grad umfassende Rundumsicht seines Lebensraums, so dass es seine Beute aus jeder Richtung herannahen sehen konnte“, erklärt Poinar.
Wegen dieser Augen haben die Forscher ihren Fund „Palaeotanyrhina exophthalma“ getauft – übersetzt steht dies für „alter, langer Rüssel“ und „außenstehende Augen“.
Klebrige Substanz zum Festhalten der Beute
Ebenfalls auffallend ist ein verbreiteter Bereich am letzten Glied der Vorderbeine dieser Urzeit-Wanze. „Diese verbreiterte Hülle war mit einer harzähnlichen Substanz gefüllt“, berichtet Poinar. Er und seine Kollegen vermuten, dass das Raub-Insekt diese klebrige Substanz nutzte, um seine Beute festzuhalten. Auch einige heutige Raubwanzen verwenden solche klebrigen Fangbeine zum Beutefang. Teils produzieren sie den Klebstoff dafür selbst in speziellen Drüsen, teils nehmen sie ihn von Pflanzen auf und bestreichen ihre Beine damit.
Im Fall des Bernstein-Insekts war die klebrige Substanz internen Ursprungs: „Die Substanz wurde in Hautdrüsen produziert und verhalf dem Tier zu einem besseren Halt beim Greifen der Beute“, berichtet Poinar. Zusammengenommen ist diese Kombination an Merkmalen für die Raubwanzen so ungewöhnlich, dass die Paläontologen es in eine eigene, neue Familie einordnen, die Palaeotanyrhinidae. (BioOne Complete, 2022; doi: 10.18476/pale.v15.a5)
Quelle: Oregon State University