Paläontologie

Urzeitliches „Fossil-Aquarium“ entdeckt

436 Millionen Jahre alte Fossilien erhellen Evolution aller kiefertragenden Wirbeltiere

Fische
Fünf auf einen Streich: Fossilien dieser fünf sehr unterschiedlichen Fische haben Paläontologen in China entdeckt. Sie werfen neues Licht auf die Evolution der ersten kiefertragenden Wirbeltiere. © Heming Zhang

Volltreffer: In China haben Paläontologen eine wahre Schatzgrube der bisher ältesten Fischfossilien entdeckt. Die bis zu 439 Millionen Jahren alten Relikte zeigen, dass die ersten kiefertragenden Wirbeltiere deutlich früher entstanden als gedacht. Unter den Funden sind die ältesten Fossilien von Knorpelfischen und bekieferten Panzerfischen, wie die Forschenden in gleich vier „Nature“-Artikeln berichten. Dies wirft ein neues Licht auf den Stammbaum der Fische und der frühesten Kiefermäuler – der Wirbeltiergruppe, zu der auch wir Menschen gehören.

Wir alle sind auch ein wenig Fisch: Fast alle heute lebenden Wirbeltiere gehen auf Urzeitfische zurück, denn sie waren die ersten Wirbeltiere, die einen Kiefer entwickelten. Aus ihnen entwickelte sich dann die großen Gruppe der Gnathostomata, der Kiefermäuler, zu der auch wir heute gehören. Doch ausgerechnet die Evolution der ersten Fische und damit auch unserer frühesten Vorfahren liegt bisher weitgehend im Dunkeln.

Fischfossilien
436 Millionen Jahre alte Fossilien früher Fische aus der Chongqing-Lagerstätte. © Zhu et al. Nature (2022)

Rätselhafte Fossilienlücke

Das Problem: DNA-Vergleiche legen zwar nahe, dass die ersten Gnathostomata schon vor rund 450 Millionen Jahren entstanden sein müssen. Aber entsprechende Fossilien aus dieser Zeit fehlen völlig. Erst mit dem Beginn des Devon vor rund 419 Millionen Jahren wurden fossile Fische so häufig, dass diese Ära auch als Zeitalter der Fische bezeichnet wird. Erst in den letzten zehn Jahren haben Paläontologen in China erstmals einige wenige Fossilien von 425 Millionen Jahre alten Fischen entdeckt.

Unklar ist zudem, welche Stammeslinie der Fische zuerst da war und den Kiefer „erfand“: Waren es die heute ausgestorbenen Panzerfische (Placodermi) mit ihrem dicken Panzer aus Knochenplatten an Kopf und Rumpf, aber einem noch unvollständig ausgebildeten Schädeldach? Waren es die Knorpelfische und damit die Vorfahren der heutigen Haie und Rochen? Oder die Knochenfische, aus denen später die Landwirbeltiere und damit auch unsere Vorfahren hervorgingen? Aus Mangel an Fossilfunden ist die Antwort auf diese Fragen bisher strittig.

„Aquarium der Vorzeit“

Das könnte sich nun ändern – dank eines wahren Aquariums an Fossilien aus der Frühzeit der Fische. In dieser Fundstätte in der chinesischen Provinz Chongqing und zwei weiteren Gesteinsformationen haben Paläontologen um You-an Zhu und Qiang Li von der Chinesischen Akademie der Wissenschaften gleich fünf verschiedene Fischarten aus der Zeit vor 436 bis 439 Millionen Jahren entdeckt: Eine kieferlose Spezies, den bisher ältesten Panzerfisch sowie drei verschiedene frühe Knorpelfische und damit die ältesten bekannten Haivorfahren.

„Ich erinnere mich noch gut an den ersten Fund: Es war ein regnerischer Tag und wir kletterten einen Gebirgspass hinauf“, erzählen die Forscher. „Dort entdeckten wir den ersten vollständigen Fisch aus dem Silur.“ Weitere Ausgrabungen im Verlauf der letzten beiden Jahre förderten dann Dutzende weitere Fossilien zutage. Die Fundstätte und ihre gut erhaltenen und vielfach vollständigen Fossilien umfasst die bisher ältesten Relikte von kiefertragenden Wirbeltieren und Fischen überhaupt.

Neuer Blick auf die Anfänge der kiefertragenden Wirbeltiere

„Zuvor konnten wir von solchen außergewöhnlichen und frühen Fossilien nur träumen“, sagt Koautor Per Ahlberg von der Universität Uppsala in Schweden. „Aber diese Funde sind mehr als Kuriositäten. Denn sie liefern uns nun die Daten, mit denen wir unsere seit langem diskutierten Hypothesen zur Entstehung unserer Stammeslinie bestätigen oder widerlegen können.“ Bedeutsam sind die neu entdeckten Fossilien nicht nur wegen ihres Alters, sondern auch, weil sie erstmals die Anatomie der ersten Fische vom Kopf bis zur Schwanzspitze zeigen.

Die erste Erkenntnis aus den neuen Funden betrifft den zeitlichen Ursprung der kiefertragenden Wirbeltiere: „Die Fossilien demonstrieren, dass die Kiefermäuler schon im frühen Silur eine erhebliche Vielfalt in Bezug auf ihre Morphologie und die Verbreitung der stammesgeschichtlichen Hauptgruppen entwickelt hatten“, berichten die Paläontologen. Dies bestätigt, dass die Wurzeln all dieser Fische weit tiefer in die Vergangenheit reichen müssen, als es bisherige Fossilfunde nahelegten.

Xiushanosteus mirabilis
Der Panzerfisch Xiushanosteus mirabilis überrascht durch mehrere ungewöhnliche Merkmale. © Heming Zhang

Erste Kiefermäuler waren eher klein und zart

Die Funde liefern zudem eine mögliche Erklärung für den Mangel an Fossilien aus der Frühzeit der kiefertragenden Wirbeltiere: „Die beiden erstaunlichsten Charakteristiken dieser Fossilansammlung ist neben ihrer großen Vielfalt die geringe Größe der Fische“, berichten Zhu und seine Kollegen. Denn die verschiedenen Spezies sind jeweils nur wenige Zentimeter groß. Dies könnte erklären, warum es bisher nur sehr wenige Überreste solcher frühen Fische gibt.

„Die geringe Größe und zarten Knochen der kiefertragenden Vertebraten von Chongqing legen nahe, dass solche Überreste außerhalb von besonderen Lagerstätten schlecht konserviert wurden“, sagen die Paläontologen. Denkbar wäre aber auch, dass die Fische zu jener Zeit nur sehr sporadisch und lokal verbreitet waren. „Die Kiefermäuler benötigten möglicherweise länger, um sich global auszubreiten als ihre kieferlosen Vorfahren“, so das Team.

Panzerfisch mit kleinen Extras

Gleichzeitig enthüllen die Fossilien auch einige neue Details über das Aussehen einzelner Vertreter der ersten Fische. Unter ihnen ist der Panzerfisch Xiushanosteus mirabilis, eine der mit mehr als 20 Exemplaren häufigsten Arten in Chongqing. „Als Placodermen-Experte bin ich von dem hohen Alter und die Vollständigkeit dieser Fossilien begeistert – es ist ein wahrgewordener Traum“, sagt Zhu. Der nur drei Zentimeter lange Xiushanosteus kombiniert Merkmale von verschiedenen Panzerfisch-Untergruppen.

Besonders spannend ist jedoch die Anatomie der Panzerplatten auf seiner Schädeloberseite. Denn sie sind von den umgebenden Kopfplatten durch deutliche Nähte abgetrennt. „Dies ist von keinem bisher entdeckten Panzerfisch bekannt“, erklären die Paläontologen. Sie vermuten, dass sich hier schon der Übergang zu den Schädelplatten der Knochenfische ankündigen könnte.

Vorfahren mit Schulterpanzer

Eine weitere Besonderheit zeigen die Fossilien von zwei frühen Knorpelfischen – Vorfahren der heutigen Haie und Rochen. Die rund 436 Millionen Jahre alte Spezies Shenacanthus vermiformis aus Chongqing zeigt zwar schon typische Körpermerkmale eines Hais, ihr Schulterbereich ähnelt aber eher dem eines Panzerfischs: Er ist von großen, harten Panzerplatten bedeckt. „Diese verhärteten Hautelemente bilden einen kompletten Ring, der den Körper wie bei den Panzerfische und Kieferlosen umgibt“, berichten Zhu und sein Team.

Fanjingshania renovata
Der frühe Haivorfahre Fanjingshania renovata hatte einen gepanzerten Schultergürtel wie ein Panzerfisch. © Heming Zhang

Ähnliches ist auch bei dem 439 Millionen Jahre alten Knorpelfisch Fanjingshania renovata erkennbar: Auch dieser Haivorfahre besaß einen gepanzerten Schulterbereich ähnlich den Panzerfischen. Seine Zähne und Schuppen zeigen hingegen einige Merkmale, die bisher eher von Knochenfischen bekannt waren. Mit dieser Mischung unterscheidet sich dieser Urzeit-Fisch von allen bisher bekannten Wirbeltieren, wie das Team um Erstautor Plamen Andreev von der Qujing Normal Universität berichtet.

„Beginn einer aufregenden Zeit“

Insgesamt eröffnen die neuen Fossilfunde damit ein spannendes Fenster in die Zeit, als die allerersten Vertreter unsere Stammesgruppe, der kiefertragenden Wirbeltiere, entstanden. „Zweifellos werden diese neuen Fossilien eine lebhafte Debatte über ihre spezifische Merkmale und die Feinheiten ihrer Klassifikation auslösen“, kommentiert der nicht an den Studien beteiligte Paläontologe Matt Friedman von der University of Michigan. „Denn die Vielfalt der neu entdeckten Fische ist noch ein Rätsel.“

Und das könnte erst der Anfang sein: „Diese Fundstätten aus dem frühen Silur haben noch mehr kiefertragende Fische erbracht, die aber noch nicht beschrieben sind“, berichtet Friedman. „Damit stehen wir Beginn einer aufregenden neuen Periode für die Erforschung der frühen Kiefermäuler.“ (Nature, 2022; doi: 10.1038/s41586-022-05136-8; doi: 10.1038/s41586-022-05233-8)

Quelle: Chinese Academy of Sciences

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