Neurobiologischer Meilenstein: Wissenschaftlern ist es erstmals gelungen, das Gehirn der Fruchtfliegen-Larve vollständig zu kartieren. Die Karte umfasst alle 3.016 Neuronen und 548.000 Synapsen des Insekts Drosophila melanogaster und ist damit die größte Hirn-Kartierung aller Zeiten. Mit ihrer Hilfe wollen die Forschenden mehr über verschiedene Hirnprozesse wie Denken, Lernen und Entscheiden erfahren. Die Ergebnisse werden sich auch auf den Menschen übertragen lassen.
Jedes Gehirn besteht aus Neuronen, die über Synapsen miteinander verschaltet sind. Obwohl wir mittlerweile wissen, welche Hirnregionen für was zuständig sind, bleiben dennoch einige offene Fragen. Diese betreffen vor allem, wie verschiedene Hirnprozesse im Detail ablaufen, also wie neuronale Signale durch das Gehirn wandern und dann zu bestimmten Verhaltensweisen führen oder dazu, dass wir etwas Neues lernen.
Ein zwölfjähriges Hirnporträt
„Wenn wir verstehen wollen, wer wir sind und wie wir denken, müssen wir auch den Mechanismus des Denkens verstehen. Und der Schlüssel dazu ist zu wissen, wie die Neuronen miteinander verbunden sind“, sagt Joshua Vogelstein von der Johns Hopkins University. Er ist Teil eines Forschungsteams, das nun die Verschaltung der Neuronen bei der Larve der Fruchtfliege Drosophila melanogaster so detailliert wie nie zuvor abgebildet hat. Das dabei entstandene Konnektom zeigt alle 3.016 Neuronen und 548.000 Synapsen des Insekts in einem dreidimensionalen Modell.
Zwölf Jahre Arbeit stecken in dieser bisher größten und vollständigsten Hirnkartierung. Um ein komplettes Bild des Gehirns auf zellulärer Ebene zu erhalten, musste das Forschungsteam um Michael Winding von der University of Cambridge das Gehirn zunächst in hunderte einzelne Gewebeproben zerlegen und jede davon mit dem Elektronenmikroskop abbilden. Allein diese Bildgebung hat das Forschungsteam etwa einen Tag pro Neuron gekostet. Anschließend mussten die Wissenschaftler all diese Einzelteile – Neuron für Neuron – rekonstruieren und zu einem vollständigen Porträt des Gehirns zusammensetzen.
Meilenstein der Neurowissenschaft
Bislang ist das nur mit den Gehirnen dreier Würmer gelungen, wobei diese aus deutlich weniger Neuronen bestanden. Komplexe Hirne mit mehreren tausend, Millionen oder sogar Milliarden Neuronen sind bislang, wenn überhaupt, nur partiell kartiert worden, aber noch nie komplett. Die Hirnkarte der Fruchtfliege gilt daher als Meilenstein in der Neurowissenschaft. Von einem Konnektom des menschlichen Gehirns sind wir allerdings noch sehr weit entfernt. Dieses müsste stolze 100 Milliarden Nervenzellen abbilden – zu viele für die derzeitige Technologie.
Nichtsdestotrotz unterscheiden sich unsere Gehirne und die anderer komplexer Säugetiere nicht erheblich von dem der Fruchtfliege. Auch sie sind im Prinzip nichts anderes als Netzwerke miteinander verschalteter Neuronen, die eine Reihe komplexer Verhaltensweisen ausführen müssen, zum Beispiel lernen, Nahrung auswählen und sich orientieren. Daher werden sich die am Fruchtfliegen-Konnektom gewonnenen Erkenntnisse auch auf das menschliche Gehirn übertragen lassen, so Windings Team.
Anwendung im maschinellen Lernen
Winding und seine Kollegen haben bereits mit der Erforschung der Schaltkreisarchitektur im Fruchtfliegenlarven-Hirn begonnen. Unter anderem konnten sie verschiedene Verbindungs- und 93 Neuronentypen sowie Netzwerkknotenpunkte identifizieren. Dabei fiel Windings Team auf, dass die am stärksten beanspruchten Schaltkreise des Gehirns diejenigen waren, die zu den Neuronen des Lernzentrums hin- und von ihnen wegführten.
Diese und einige andere Strukturen im Fruchtfliegen-Gehirn erinnern die Forschenden an Strukturen des maschinellen Lernens. Sie vermuten daher: „Eine künftige Analyse der Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Gehirnen und künstlichen neuronalen Netzen könnte zum Verständnis der Rechenprinzipien des Gehirns beitragen und vielleicht neue Architekturen für das maschinelle Lernen inspirieren.“
Die Fruchtfliegen-Karte wird uns also nicht nur dem Verständnis unseres eigenen Gehirns näherbringen, sondern auch Fortschritte bei der Entwicklung künstlicher Intelligenz ermöglichen. (Science, 2023; doi: 10.1126/science.add9330)
Quelle: University of Cambridge, Johns Hopkins University, Science