Überraschender Nebeneffekt: Ein urzeitliches Virengen in unserer DNA entpuppt sich als heimlicher Muskelmacher – aber nur bei Männern. Das endogene Retrovirus lässt Muskeln bei ihnen stärker wachsen und hilft auch bei ihrer Heilung mit, wie Versuche mit Mäusen und Menschenzellen nahelegen. Das Erstaunliche daran: Bei Frauen ermöglicht dieses Virengen stattdessen die Bildung der Plazenta.
Es gibt Viren, die tragen wir immer bei uns – in unserem Genom. Denn im Laufe der Evolution haben sich zahlreiche Virengene und Genfragmente in unserem Erbgut angesammelt. Solche endogenen Retroviren machen gut acht Prozent unserer DNA aus. Rechnet man die Fragmente dazu, könnten sogar mehr als 43 Prozent unseres Genoms viralen Ursprungs sein. Welche Funktion diese Virenreste haben, ist bisher jedoch nur für wenige endogene Retroviren bekannt.
Eines dieser endogenen Viren könnte bei BSE und der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit eine Rolle spielen, ein anders entpuppte sich dagegen als wichtiger Helfer gegen Krebs. Ein weiteres sorgt dafür, dass bei der Schwangerschaft in der Plazenta Riesenzellen aus verschmolzenen Zellen entstehen. Dieses sogenannte Syncytium fungiert als Grenzschicht zwischen Mutter und Kind.
Weniger Muskelmasse ohne Virus
Jetzt haben François Redelsperger vom Krebsforschungszentrum Gustave Roussy in Frankreich und seine Kollegen eine weitere überraschende Funktion dieses endogenen Syncytin-Virus aufgedeckt. Für ihre Studie blockierten sie bei Mäusen dieses endogene Retrovirus – diesmal aber nicht bei weiblichen Mäusen, wie sonst üblich, sondern bei jungen Männchen.
Das erstaunliche Ergebnis: Die Jungtiere entwickelten sich zu anormal schwächlichen Mäusemännern. Ihre Muskelfasern waren 20 Prozent kleiner und enthielten 20 Prozent weniger Zellkerne als bei normalen Mäusemännchen. Ohne die Beihilfe des endogenen Virus war die Muskelmasse dieser Mäuse dadurch drastisch reduziert.
Von Stammzellen zu Muskelfasern
Und noch etwas beobachteten die Forscher: War das endogene Retrovirus blockiert, heilten auch Muskelverletzungen bei den Mäusemännern schlechter. Der Grund: Bei Wachstum und Heilung des Muskels spielt das Protein Syncytin eine wichtige Rolle. Es sorgt dafür, dass sich aus verschmolzenen Stammzellen Muskelfasern entwickeln. Fehlt dieses Protein, funktioniert dies weniger effektiv, wie das Experiment belegte.
„Offenbar führt die Deaktivierung von Syncytin zu einer mangelhaften Verschmelzung beim Muskelwachstum – aber nur bei Männern“, erklären Redelsperger und seine Kollegen. Möglicherweise, so spekulieren sie, liegt hier der Grund für die geringere Muskelmasse bei Frauen: Bei ihnen sind die endogenen Retroviren zwar in der Plazenta aktiv, nicht aber in den Muskelzellen.
Muskelmacher auch beim Menschen?
Aber haben die endogenen Retroviren auch bei menschlichen Männern diese muskel-aufbauende Wirkung? Um das herauszufinden, testeten die Forscher Muskel-Stammzellen von Mensch, Schaf und Hund in Zellkulturen. Und tatsächlich: Schalteten sie bei diesen Stammzellen das endogene Retrovirus aus, bildeten sich weniger und kleinere Muskelfasern – bei allen getesteten Säugetierarten.
Nach Ansicht der Forscher spricht dies dafür, dass das endogene Syncytin-Retrovirus geschlechtsspezifisch wirkt: Das virale Gen übernimmt bei Mann und Frau ganz unterschiedliche Aufgaben. Bei der Frau ermöglicht es die Plazenta-Bildung, beim Mann dagegen führt es zu vermehrtem Muskelwachstum.
Diese überraschende Erkenntnis demonstriert, dass die viralen Genreste in unserm Erbgut alles andere als „Feinde“ oder tickende Zeitbomben sind – im Gegenteil: Zumindest einige von ihnen sind für uns längst unentbehrlich geworden. (PloS Genetics, 2016; doi: 10.1371/journal.pgen.1006289
(CNRS (Délégation Paris Michel-Ange), 05.09.2016 – NPO)