Mit über 100 Jahre alten falschen Vorstellungen räumen die Biopsychologen und andere Neurowissenschaftler um Professor Onur Güntürkün von der Ruhr-Universität Bochum jetzt auf: Um 1900 hatte der damals führende Neuroanatom Ludwig Edinger in Frankfurt postuliert, die Evolution des Gehirns sei linear verlaufen mit dem Menschen am oberen Ende. Die Hirnregionen der einzelnen Wirbeltierklassen hätten sich im Laufe der Zeit eine nach der anderen entwickelt. Primitive Tiere wie Vögel verfügten seiner Auffassung nach nicht über die äußeren Hirnbereiche, zum Beispiel die Hirnrinde.
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Neuere Untersuchungen haben diese Auffassung zwar als falsch entlarvt, aber die durch Edinger geprägte Nomenklatur blieb erhalten und hinderte die Neurowissenschaftler an einer unvoreingenommenen Sicht der Dinge. Ein internationales Konsortium aus 29 Forschern hat jetzt einen Schlussstrich gezogen und schlägt in der aktuellen Ausgabe von NATURE Review Neuroscience eine neue Namensgebung vor.
Namen halten sich bis heute
Die Geschichte beginnt in Deutschland vor 105 Jahren: Der damals international führende vergleichende Neuroanatom, Ludwig Edinger, war auf dem Zenit seines Ansehens. Er beherrschte die derzeit modernsten Techniken, hatte Hunderte Gehirne von vielen Dutzend Spezies in einem Detail und mit einer technischen Vollkommenheit analysiert wie kein Zweiter. Auf dieser Grundlage entwarf er eine Theorie der Entwicklung des Wirbeltiergehirns sowie eine Nomenklatur der Hirnstrukturen der Wirbeltiere, einschließlich des Menschen. „Dieses gewaltige Werk beeinflusste unser gesamtes modernes Denken über die Hirnorganisation von Menschen und anderen Tieren“, erklärt Prof. Güntürkün. „Nach wie vor lassen sich viele Namen der Neuroanatomie des Menschen auf Edingers Konzeption zurückführen.“