Wissenschaftler haben in Ecuador eine Wanderameisenart entdeckt, die Wirbeltiere der vielfachen Größe ihrer selbst wie Schlangen, Echsen oder Vögel nicht nur beißt, sondern sie auch zerlegt und verzehrt. Möglicherweise bildet das Erlegen so großer Beutetiere sogar den Ursprung des komplexen, kooperativen Sozialverhaltens der Ameisen.
Manchmal kommen wissenschaftliche Erkenntnisse zu den seltsamsten Zeiten: Der Verhaltensbiologe Sean O’Donnell, unterwegs im Dschungel Ecuadors, hatte sich gerade zu einer Tasse Kaffe niedergelassen, als sich vor ihm ein gut 40 Zentimeter langer Riesenregenwurm aus dem Boden wühlte, verfolgt von einer ganzen Armee von Wanderameisen. Schnell hatten die Insekten den sie um ein Mehrfaches überragenden Wurm in einer konzertierten Aktion gelähmt und getötet.
Dieser überraschende Anblick wurde verstärkt durch ein Erlebnis nicht viel später, als der Forscher die gleiche Ameisenart dabei beobachtete, wie sie einen Schlangenkadaver zerlegte und als Futter abtransportierte – eine bislang für die Ameisen der Neuen Welt absolut unbekannte Verhaltensweise. Denn die Wanderameisen dieses Kontinents beißen und töten zwar ab und zu auch kleinere Wirbeltiere wie Echsen, Vögel oder Schlangen, verzehren sie aber nicht. Hauptnahrung bilden Insekten und andere Wirbellose.
Basis kooperativen Verhaltens
Nach Ansicht von O’Donnell und seinen Kollegen könnte die Jagd auf übergroße Beute möglicherweise nicht nur eine willkommene Ergänzung des Speisezettels, sondern auch eine sehr ursprüngliche Verhaltensweise unter den Ameisen darstellen. „Cheliomyrmex könnte uns zeigen, dass das kooperative Erlegen großer Beute ein evolutiver Vorgänger der Jagd auf kleinere Beutetiere ist“, erklärt O’Donnell. „Typischerweise greifen die Wanderameisen andere Insektenkolonien an, aber Cheliomyrmex folgt diesem Lebensstil nicht.“
In einer Veröffentlichung in der Zeitschrift Biotropica stellt O’Donnell gemeinsam mit seinen Kollegen Michael Kaspari von der Universität von Oklahoma und John Lattke von der Zentraluniversität von Venezuela die Hypothese auf, dass die Nahrungssuche, ein Schlüsselelement im komplexen Sozialverhalten der Wanderameisen, vielleicht seinen Ursprung in der Jagd auf große Beute gehabt haben könnte.
Ursprung in Afrika?
Die bisher zwar identifizierte aber nur selten im Freiland beobachtete Wanderameisenart Cheliomyrmex andicola scheint damit relativ einzigartig unter den Ameisen Südamerikas zu sein, so die Ansicht der Forscher. O’Donnell und seine Kollegen der Tiputini Biodiversity Station, einer Naturschutzstation in Ostecuador, nutzen die Gelegenheit und fingen einige Tiere ein, um sie näher zu untersuchen, denn bisher ist so gut wie nichts über die Lebensweise dieser Ameisen bekannt.
O’Donnell konnte sehr schnell am eigenen Leibe erfahren, dass die Bisse von Cheliomyrmex mindestens so schmerzhaft und juckend sind wie die der berüchtigten Feuerameisen. Offensichtlich wirkt das Gift der Tiere sowohl toxisch als auch lähmend. Obwohl die Cheliomyrmexarbeiter nur eher mittelgroß sind, erreichen ihre Mundwerkzeuge furchteinflößende Dimensionen. Die klauenförmigen Kiefer sind mit langen, dornenartigen Zähnen besetzt, mit deren Hilfe sich die Ameisen während des Angriffs an ihrer Beute festhalten.
Nach Ansicht von O’Donnell könnte dies ein Hinweis auf die Verwandtschaft von Cheliomyrmex mit den Treibameisen Afrikas sein. Diese besitzen ebenfalls extrem ausgeprägte Kiefer und jagen große Beute. Möglicherweise hat sich der Vorfahre der Neuwelt-Wanderameisen vor rund 105 Millionen Jahren von den Vorfahren der afrikanischen Treiberameisen getrennt – zu einer Zeit, als die beiden bis dahin verbundenen Kontinente Afrika und Südamerika auseinander zu driften begannen.
(University of Chicago Press Journals, 30.12.2005 – NPO)