Anders als gedacht war der Allosaurus möglicherweise doch kein Top-Prädator seiner Zeit. Stattdessen könnte der große, aber mit eher zartem Kopf ausgestattete Raubdinosaurier die Rolle eines Geiers in seinem Lebensraum übernommen haben – er fraß die Kadaver der riesenhaften Sauropoden, die in seinem Umfeld reichlich vorkamen. Das könnte auch erklären, warum der Allosaurus anders als andere Fleischfresser kaum räumlich sehen konnte: Zum Aasfressen brauchte er das nicht.
Auf den ersten Blick ähnelt der vor rund 150 Millionen Jahren lebende Allosaurus dem ihm nachfolgenden Tyrannosaurus: Beide Dinosaurier waren große, zweibeinig laufende Theropoden mit kurzen Ärmchen und messerscharfen Zähnen. Beide waren die größten Fleischfresser ihrer Zeit – Allosaurus im Oberjura, T.rex in der Kreidezeit. Doch während beim Tyrannosaurus inzwischen weitgehend klar scheint, dass er ein Top-Prädator und damit aktiv Beute jagender Räuber war, ist dies beim Allosaurus stark umstritten.
Vor allem der schmale Kopf des Allosaurus weckte Zweifel daran, ob dieser Dinosaurier größere Beute packen und töten konnte. Seine „Tischsitten“ könnten nach Ansicht einiger Paläontologen eher denen eines Aasgeiers geähnelt haben. Fossile Allosaurus-Bissspuren lassen zudem vermuten, dass dieser Dinosaurier auch Aas fraß und dabei vor Kannibalismus nicht zurückschreckte.
Virtuelle Allosaurier als Testobjekt
Ob der Allosaurus Aasfresser oder Top-Prädator war, haben nun Cameron Pahl und Luis Ruedas von der Portland State University mithilfe einer Modellrekonstruktion untersucht. Dafür versetzten sie virtuelle Allosaurier in eine von Flüssen durchzogene Savannenlandschaft, wie sie vor 145 bis 155 Millionen Jahren im Gebiet der Morris-Formation im Westen der Nordamerikas existierte.
Fossilfunde belegen, dass es in diesen weiten Ebenen viele Allosaurier, aber auch zahlreiche Vertreter riesenhafter, pflanzenfressender Sauropoden gab – unter anderem Brachiosaurus, Diplodocus, Brontosaurus und Supersaurus. Mithilfe einer agentenbasierten Simulation testeten die Forscher, wie gut ihre virtuellen Allosaurier in diesem Umfeld überlebten, wenn sie entweder räuberisch lebten oder aber als Aasfresser.
Aasfresser erfolgreicher als Prädatoren
Das Ergebnis: „In den Simulationen zeigte sich ein großer selektiver Vorteil für Allosaurier nur dann, wenn sie obligate Aasfresser waren“, berichten Pahl und Ruedas. Denn die riesigen, sie überragenden Sauropoden zu jagen und zu erlegen, hätte die Fleischfresser zu viel Kraft und Energie gekostet. In vielen Fällen würden sie solche Angriffe auf die massigen Pflanzenfresser zudem mit Verletzungen und dem Tod bezahlen.
„Allosaurier mit einer primär räuberischen Strategie konnten sich in unseren Simulationen daher nicht durchsetzen“, erklärt das Team. Die aktiv jagenden Allosaurier hatten nur dann Erfolg, wenn es so gut wie keine Sauropoden-Kadaver in ihrer Umgebung gab und wenn sie genügend kleinere Pflanzenfresser als Beute fanden. „Das allerdings könnte in einem von Sauropoden dominierten Ökosystem nicht der Fall gewesen sein“, so die Forscher.
Schlechtes räumliches Sehen
Zu diesem Ergebnis passt auch eine Untersuchung des Allosaurus-Schädels und im Speziellen seiner Augenposition: Aus dieser schließen Pahl und Ruedas, dass dieser Fleischfresser eine deutlich schlechtere räumliche Sehfähigkeit besaß als der Tyrannosaurus und viele andere Raubtiere. Seine 3D-Sicht entsprach 30 Prozent von der eines T.rex und 15 Prozent von der eines Löwen. Die Fähigkeit, Entfernungen gut abschätzen zu können, gilt aber als wesentlich für den Erfolg eines aktiv jagenden Räubers.
„Unsere Ergebnisse könnte erklären, warum der Allosaurus weder eine besonders hohe Bisskraft noch beidäugiges Sehen entwickelte: Angesichts der reichen Verfügbarkeit von Sauropoden-Kadavern in ihrem Lebensraum standen sie unter keinem Selektionsdruck, ihre Beute aktiv überwältigen zu müssen“, erklären die Paläontologen. „Deshalb könnten die Allosaurier sich zu einem landlebende Analog der Aasgeier entwickelt haben.“
Warum Tyrannosaurier zu Räubern werden mussten
Auch den Unterschied zu den Tyrannosauriern könnte dieses Szenario erklären: Diese lebten in Regionen und zu einer Zeit, in der es weit weniger große Sauropoden gab. Entsprechend dünner gesät waren riesenhafte Kadaver. „Die Tyrannosauriden könnten deshalb gezwungen gewesen sein, ihren Energiebedarf durch die Jagd zu decken“, konstatieren Pahl und Ruedas. (Ecological Modelling, 2021; doi: 10.1016/j.ecolmodel.2021.109706)
Quelle: Portland State University