Kuriose Verbindung: Wer das zarte Streicheln über die Wange besser spüren will, der sollte seine Finger trainieren. Denn wenn sich der Tastsinn der Finger verbessert, verbessert sich auch der Tastsinn im Gesicht. Das haben Forscher in einem Experiment herausgefunden. Der Grund für diesen seltsamen Effekt: Das für die Hand zuständige Areal im Gehirn grenzt an das Gesichtsareal, daher „schwappt“ das Training sozusagen über, wie die Forscher im Fachmagazin „Current Biology“ berichten.
In unserm Gehirn werden Sinnesreize von verschiedenen Körperteilen im sogenannten sensorischen Cortex verarbeitet. Dieser Teil der Hirnrinde bildet eine Art Minikarte unseres Körpers, den sogenannten Homunkulus. Für jede Körperregion ist in ihm ein bestimmtes Areal zuständig, die Areale benachbarter Körperteile grenzen auch im Gehirn aneinander. Doch es gibt eine Ausnahme: Im Körper liegen Finger und Gesicht zwar ziemlich weit auseinander, im Gehirn jedoch grenzen ihre sensorischen Areale direkt aneinander.
Reiztraining verbessert die Wahrnehmung
Hubert Dinse vom Institut für Neuroinformatik der Ruhr-Universität Bochum und seine Kollegen erforschen schon seit längerer Zeit, ob und wie sich der Tastsinn durch gezieltes Training verbessern lässt. Dafür stimulierten die Wissenschaftler den Zeigefinger ihrer Probanden durch ganz leichte Stromschläge oder eine vibrierende Membran – bis zu drei Stunden lang.
Diese wiederholten Reize, das hatten vorhergehende Studien schon gezeigt, aktivieren die Gehirnzellen im sensorischen Areal des Fingers und regen sie dazu an, neue Verknüpfungen zu bilden. Dadurch verbessert sich tatsächlich nach einiger Zeit der Tastsinn: Nach der Stimulation konnten die Probanden zwei nebeneinanderliegende Reize leichter auseinanderhalten – aber nur mit dem trainierten Finger, nicht mit dem der anderen Hand.
Mehr Gefühl auch in Lippen und Wange
In der aktuellen Studie fragten sich die Forscher nun, ob sich dieser Lerneffekt vielleicht doch auf andere Körperbereiche ausdehnt – auf diejenigen, die im Gehirn direkt neben dem Fingerareal liegen. Deshalb testeten Dinse und seine Kollegen nach dem Tasttraining für den Finger nun auch, ob sich bei der Sensibilität des Gesichts für Tastreize etwas geändert hatte. Und tatsächlich: Auch an den Lippen und der rechten Wange spürten die Probanden nun sehr viel feinere Berührungen als zuvor.
Lerneffekte durch verstärktes Reiztraining können sich demnach auch von einem Körperteil auf den anderen übertragen, so die Forscher. Voraussetzung ist allerdings, dass die Areale beider Körperteile im sensorischen Cortex aneinandergrenzen. Dann wird nicht nur die Sensibilität der Nervenzellen im trainierten Areal befördert, sondern die der benachbarten gleich mit. Bisher war diese Form der Plastizität im „Homunkulus“ nur von Amputierten bekannt. Bei ihnen sind die Sinnesareale der amputierten Gliedmaßen „arbeitslos“ und werden daher häufig von benachbarten Regionen übernommen. (Current Biology, 2014; doi: 10.1016/j.cub.2014.07.021)
(Ruhr-Universität Bochum, 19.08.2014 – NPO)