Genetischer Beweis: Bei uns Menschen liegt das Geschlechterverhältnis eigentlich bei 1:1, dennoch bekommen manche Familien nur Mädchen oder nur Jungs. Warum das so ist, haben nun Genetiker herausgefunden. Demnach gibt es in unserer DNA genetische Varianten, die bei einzelnen Personen für mehr weiblichen oder mehr männlichen Nachwuchs sorgen. Insgesamt führen diese Mutationen aber dazu, dass das Geschlechterverhältnis in der Gesamtbevölkerung langfristig ausgewogen bleibt. Dieses Prinzip haben Evolutionsbiologen schon lange vermutet. Nun liegen erstmals Beweise vor.
Jedes Jahr werden weltweit etwa gleich viele Jungen und Mädchen geboren. Aber in einzelnen Familien haben Paare manchmal vier oder mehr Töchter und keine Söhne. Bei anderen ist es umgekehrt: Sie haben ausschließlich männliche Nachkommen und keine weiblichen. Ist dieses unausgewogene Geschlechterverhältnis Zufall – weil X- und Y-Chromosomen während der Meiose zufällig auf Spermien verteilt werden – oder das Resultat der elterlichen Gene?
„Wissenschaftler haben jahrzehntelang nach einer genetischen Grundlage für das Geschlechterverhältnis geforscht, aber es wurde bisher kein eindeutiger Beweis für eine genetische Variation gefunden, die das menschliche Geschlechterverhältnis von einem Verhältnis von etwa 50:50 verändert“, berichtet Jianzhi Zhang von der University of Michigan.
Eine Frage der Datenmenge?
Doch das heißt nicht zwangsläufig, dass es nicht doch eine Mutation geben könnte, die das Geschlechterverhältnis beeinflusst. Zhang und sein Team vermuteten, dass die bisher verwendeten Methoden schlicht zu ungenau waren, um diese Genvarianten zu finden. Weil die meisten Menschen nur wenige Nachkommen haben, ist es schwer, ihr individuelles Geschlechterverhältnis richtig abzuschätzen. Das kann bei kleinen Datensätzen zu Messfehlern und verzerrten Ergebnissen führen.
Zusammen mit seinem Kollegen Siliang Song hat Zhang daher nun erstmals einen viel größeren Datensatz nach solchen genetischen Einflussfaktoren durchforstet. Die Biologen analysierten die genetischen Informationen und Angaben zu den Familienverhältnissen von über 500.000 Menschen, deren Daten in einer britischen Forschungsdatenbank gespeichert sind.
Mehr Mädchen dank seltener Genvariante
Tatsächlich wurden die Forschenden fündig: Sie entdeckten eine seltene Mutation, die die Chance, ein Mädchen zu bekommen, um zehn Prozent erhöht. Träger dieser Genvariante bekommen mit einer 60-prozentigen Wahrscheinlichkeit ein Mädchen und nur zu 40 Prozent einen Jungen. In dem untersuchten Datensatz trat diese Mutation allerdings bei nur 0,5 Prozent der Menschen auf.
Verursacht wird die mädchenfördernde Mutation durch den Austausch nur einer einzigen Base im Code der DNA, wie das Team berichtet. Diese Punktmutation liegt in der Nähe des Gens ADAMTS14. Gene aus der ADAMTS-Familie sind dafür bekannt, an der Spermienbildung und Befruchtung beteiligt zu sein.
Darüber hinaus identifizierten Song und Zhang zwei weitere Gene, RLF und KIF20B, die ebenfalls einen Einfluss auf das Geschlechterverhältnis haben könnten. Wie genau sie wirken, ist noch unklar. Ihre Korrelation mit einem unausgeglichenen Geschlechterverhältnis legt jedoch nahe, dass es noch weitere, bisher unbekannte Genvarianten geben könnte, die das individuelle Mädchen-Junge-Verhältnis verzerren, so das Team.
Belege für lange vermutetes Evolutionsprinzip gefunden
Damit haben die Biologen erstmals Beweise für eine lang gehegte Theorie gefunden. „Unsere Studie zeigt, dass menschliche Daten mit dem Fisher-Prinzip übereinstimmen“, schließt Zhang. Dieses nach dem britischen Evolutionsbiologen Ronald Fisher benannte Prinzip besagt, dass im Zuge der natürlichen Selektion sich stets solche Genvarianten vorübergehend stärker durchsetzen, die das aktuell weniger vorhandene Geschlecht bevorzugen.
Wenn also in einer Evolutionsphase weniger Mädchen geboren werden, treten Genvarianten wie die nun gefundene häufiger auf, die bei einzelnen Menschen für mehr weiblichen Nachwuchs sorgen. Umgekehrt nehmen in Phasen, in denen weniger Jungs zur Welt kommen, Mutationen zu, die für mehr männliche Babys sorgen. Unterm Strich wird so das Geschlechterverhältnis der Gesamtbevölkerung wieder ausgeglichen. Weil diese Genvarianten nicht vererbt werden, kommt es offenbar zu keinem langfristigen Verschiebungseffekt, erklären Song und Zhang.
Suche nach weiteren Genvarianten bei Mensch und Tier
Das Team will nun seine Analysen mit den Daten vieler weiterer Menschen wiederholen und die Erkenntnisse so statistisch weiter überprüfen. Zudem sollen Folgestudien klären, ob solche geschlechtsbestimmenden Genvarianten auch bei Tieren vorkommen. Die Vermutung liegt nahe, da es viele Beispiele von Säugetieren, Vögeln und Insekten gibt, bei denen das Geschlechterverhältnis einer Population nicht 1:1 beträgt. Hier greift das Fisher-Prinzip offenbar nicht, weil andere Selektionsfaktoren es überlagern.
In der Landwirtschaft könnten solche geschlechtsbeeinflussenden Mutationen dann genutzt werden, um mehr weibliche Nutztiere wie Milchkühe oder Legehennen zu erzeugen. Die wirtschaftlich weniger nützlichen männlichen Tiere würden dann seltener geboren – und müssten nicht getötet werden. (Proceedings of the Royal Society B: Biological Sciences, 2024; doi: 10.1098/rspb.2024.1876)
Quelle: University of Michigan