Neurobiologie

Warum unser Wille freier ist als gedacht

Psychologen präsentieren alternative Erklärung für das berühmte Libet-Experiment

Wer steuert unserer Entscheidungen? Unser bewusstes Ich oder unbewusste Prozesse in unserem Gehirn? © satellitesixty/ iStock.com

Komplett ferngesteuert – oder doch nicht? Deutsche Psychologen haben eine neue Hypothese zum freien Willen formuliert. Darin stellen sie klar: Die menschliche Willensfreiheit und das bislang wichtigste Gegen-Experiment dazu müssen sich nicht widersprechen – wenn man die Ergebnisse anders interpretiert. Demnach seien die typischen Hirnsignale, die schon lange vor einer bewussten Entscheidung messbar sind, nicht der Auslöser von Entscheidung und Handlung. Sie erleichterten die Wahl lediglich.

Wie frei sind wir in unseren Entscheidungen? Werden wir von unserem Gehirn womöglich nur ferngesteuert? Diese Frage beschäftigt Hirnforscher, Psychologen und Philosophen schon seit den 1980er Jahren. Damals zeigte das berühmte Experiment des Physiologen Benjamin Libet, dass unsere Handlungen schon lange vor der bewussten Entscheidung im Gehirn angelegt zu sein scheinen. Denn noch bevor wir uns bewusst sind, wie unsere Wahl ausfallen wird, aktiviert das Gehirn spezifische Schaltkreise für eine der beiden Möglichkeiten.

Dieses frühe sogenannte Bereitschaftspotenzial galt Libet und vielen anderen als eindeutiger Beleg: Das subjektive Gefühl der freien Willensentscheidung sei eine Illusion. Seitdem haben Forscher jedoch auch immer wieder Hinweise dafür gefunden, dass die menschliche Willensfreiheit doch nicht so eingeschränkt ist wie Libets Ergebnisse vermuten lassen. So können wir eine vorab gefällte Entscheidung etwa bis zu einem gewissen Punkt noch bewusst umstoßen.

Negatives Hirnsignal als Auslöser?

Auch die Psychologen um Stefan Schmidt vom Universitätsklinikum Freiburg sind sich sicher, dass unser Wille freier ist als gedacht. Sie haben nun eine alternative Erklärung für Libets Beobachtungen formuliert und zu diesem Zweck vorhandene Studien zu dem Thema ausgewertet sowie eigene Untersuchungen durchgeführt.

Die Wissenschaftler konzentrierten sich dabei vor allem auf die Funktion des frühen Bereitschaftpotenzials. Den Forschern zufolge ergibt es sich aus der Addition sehr langsamer Hintergrundschwankungen in der Gehirnaktivität und steigt 400 bis 500 Millisekunden vor Beginn der Handlung typischerweise in den negativen Bereich. Doch löst dieses charakteristische Hirnpotential wirklich unsere Entscheidung aus?

Schmidt und seine Kollegen konnten bei einer Durchführung des Libet-Experiments nachweisen, dass das nicht unbedingt so sein muss. Anders als bei Libet üblich werteten sie jeden experimentellen Durchgang einzeln aus, anstatt bis zu 40 Durchgänge zu mitteln. Dabei zeigte sich: Das Hirnsignal war in einem Drittel der Durchgänge positiv oder neutral statt wie erwartet negativ.

Bereitschaftspotenzial erleichtert Entscheidungen

„Das widerspricht der gängigen Annahme, dass der Anstieg eine direkte Vorbereitung der Handlung ist“, sagt Schmidt. Laut der Hypothese der Forscher ist das Bereitschaftspotenzial demnach nicht die Ursache von Entscheidung und Handlung, sondern ein Begleitphänomen – das jedoch durchaus einen Einfluss auf unser Tun hat.

„Wir wissen aus den Experimenten, dass ein negatives Bereitschaftspotenzial Entscheidungen erleichtert, sie aber nicht auslöst. Es ist einer von vielen Einflussfaktoren“, so Schmidt. Das Ansteigen des Potenzials in den negativen Bereich werde offensichtlich als innerer Impuls oder Bedürfnis verspürt, sich für die Handlung zu entscheiden. Viele Entscheidungen fallen deshalb dann, wenn die langsamen Schwankungen im negativen Bereich sind.

Impuls muss nicht gefolgt werden

Die Wissenschaftler führten das Experiment auch mehrfach mit meditationserfahrenen Versuchspersonen durch. Diese sind aufgrund der Stabilisierung ihrer Aufmerksamkeit besser als nicht Meditierende in der Lage, innere Vorgänge zu beobachten und zu berichten. Einem Meditationsmeister gelang es, den inneren Impuls zum Handeln – sprich: die negative Schwankung – zuverlässig zu identifizieren.

Folgte er dem Impuls, verstärkte sich das Bereitschaftspotential wie erwartet. Widerstand er dem Impuls, wurde es schwächer. Verzögerte er die Handlung nach dem Impuls, verschob sich auch das Bereitschaftspotential entsprechend. „Wir werden nicht nur nicht vom Bereitschaftspotenzial bestimmt, wir können es sogar bewusst verändern“, schließen die Forscher. (Neuroscience & Biobehavioral Reviews, 2016; doi: 10.1016/j.neubiorev.2016.06.023)

(Universitätsklinikum Freiburg, 18.07.2016 – DAL)

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