Neurobiologie

Warum wir vor lauter Wald den Baum nicht sehen

Höhere Cortexareale unterdrücken Aktivität der primären Sehrinde

Auge
Warum sehen wir Objekte anders, wenn sie von ähnlichen Objekten umgeben sind? © Nastia11/ iStock.com

Visuelles Phänomen: Warum stechen Objekte weniger stark hervor, wenn sie von ähnlichen Objekten umgeben sind? Forscher liefern nun eine Erklärung dafür: Offenbar ist der Einfluss höherer Cortexareale auf die primäre Sehrinde verantwortlich dafür. Sie wirken auf diese erste Station des Sehens im Denkorgan ein und unterdrücken ihre Aktivität, wie Experimente mit Mäusen nahelegen. Die Folge: Wir sehen vor lauter Wald den Baum nicht mehr.

Wie wir die Welt um uns herum sehen, hängt entscheidend von der Arbeit unseres Gehirns ab. Die erste Station ist dabei die primäre Sehrinde – hier werden die ins Auge einfallenden Lichtreize zuerst verarbeitet. Dieser Teil des visuellen Cortex reagiert sensibel auf Objekte in einem relativ kleinen Sichtfeld. Schauen wir uns einen isolierten Gegenstand an, feuern die Neuronen in diesem Bereich und wir nehmen das betrachtete Objekt kontrastreich und in allen Einzelheiten wahr.

Anders verhält es sich, wenn der Gegenstand von einer Vielzahl ähnlicher Objekte umgeben ist. Dann sticht er weniger stark hervor. „Die Zellen im primären visuellen Cortex sind in diesem Fall weniger aktiv. Im Prinzip passiert Folgendes: Wir sehen den Baum vor lauter Wald nicht“, erklärt Alexander Heimel von der Königlich Niederländischen Akademie der Wissenschaften in Amsterdam.

Signale höherer Areale?

Wie aber kommt es, dass die Reaktion auf einen visuellen Reiz von der Umgebung abhängig ist? „Eine Theorie geht davon aus, dass der sogenannte Surround-Suppression-Effekt durch Signale von höheren visuellen Cortexarealen zustande kommt. Doch einen eindeutigen Beweis dafür gab es bisher nicht“, sagt Heimels Kollege und Erstautor Joris Vangeneugden.

Um dies zu ändern, haben die Wissenschaftler nun Experimente mit Mäusen durchgeführt. Für ihre Studie zeigten sie den Nagern Bilder unterschiedlicher Größen – sie bekamen gewissermaßen manchmal einen einzelnen Baum und manchmal einen ganzen Wald zu sehen. Wie würde ihr primärer Cortex darauf reagieren? Und was würde passieren, wenn die Forscher andere Areale der Sehrinde ausschalteten?

Messbarer Einfluss

Die Ergebnisse offenbarten: Die Neuronen in der primären Sehrinde wurden mit zunehmender Größe des Gezeigten zunächst immer aktiver. Wurde eine bestimmte Bildgröße jedoch überschritten, zeigten sie wie erwartet eine geringere Aktivität. Unterdrückten Vangeneugden und sein Team gleichzeitig die Aktivität benachbarter höherer Cortexareale, veränderte sich die Hirnreaktion allerdings. In diesem Fall blieb die Aktivität der primären Sehrinde hoch.

Nach Ansicht der Wissenschaftler belegt dies, dass die jeweils auf bestimmte Teilaspekte des Sehens spezialisierten höheren visuellen Cortexareale der primären Sehrinde tatsächlich Rückmeldung geben und für einen Teil des Surround-Suppression-Effekts verantwortlich sind. „Sie sagen ihr, dass sie sich nur auf kleine, einzelne Objekte konzentrieren soll“, konstatiert Heimel.

Solche Prozesse zu entschlüsseln ist wichtig, um die Funktionsweise unseres Sehsinns besser zu verstehen – und zum Beispiel Hilfen für Blinde zu entwickeln, wie die Forscher erklären. „Nur sicherzustellen, dass Licht bis ins Gehirn gelangt, reicht nicht. Was danach passiert, ist noch viel wichtiger“, schließt Vangeneugden. (Current Biology, 2019; doi: 10.1016/j.cub.2019.10.037)

Quelle: Niederländisches Institut für Neurowissenschaften – KNAW

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