Erreger als Futter: Bisher war kein einziges Lebewesen bekannt, das Viren frisst – bis jetzt. Denn im Meer haben Forscher erstmals Einzeller entdeckt, die sich offenbar gezielt von Viren ernähren. Die winzigen Wesen – Choanoflagellaten und Picozoa – verschlingen die Viren und versorgen sich so mit Nährstoffen wie Stickstoff und Phosphor. Weil die Einzeller selbst so winzig sind, reichen ihnen die nur bis zu 150 Nanometer kleinen Viruspartikel dafür aus.
Viren gehören zu den erfolgreichsten Bewohnern unseres Planeten. Sie kommen in allen Lebensräumen und nahezu allen Lebewesen vor. Ihr Wirtsspektrum reicht von Bakterien über Pflanzen, Pilze und wirbellose Tiere bis hin zu Säugetieren und dem Menschen. Forscher vermuten, dass Viren wahrscheinlich mit den ersten lebenden Zellen koexistierten. Wie schnell die Viren selbst neue Wirte erobern können, zeigt nicht zuletzt die aktuelle Corona-Pandemie.
Gibt es wirklich nirgendwo Virenfresser?
Doch obwohl es überall vor Viren nur so wimmelt, schienen sie keine Fressfeinde zu haben. Bislang war kein einziges Lebewesen bekannt, dass sich von Viren ernährt. Zwar lassen sich in vielen Organismen Viren im Verdauungstrakt nachweisen. Die meisten davon gelangen aber eher als „Beifang“ mit Bakterien oder anderen Virenwirten dorthin und werden nicht gezielt gefressen.
Auf den ersten Blick schien dies auch bei den Einzellern nicht anders, die Forscher um Ramunas Stepanauskas vom Bigelow Laboratory for Ocean Sciences in Maine untersucht haben. Für ihre Studie hatten sie Proben aus dem Nordwest-Atlantik und von der spanischen Mittelmeerküste auf marine Einzeller hin analysiert. Dabei sequenzierten sie auch die DNA von knapp 1.700 verschiedenen Protisten, um deren Artzugehörigkeit, aber auch ihre Nahrung zu bestimmen. Wie erwartet, enthielten viele dieser Einzeller auch das Erbgut von Bakterien und deren Viren.
Viren im Bauch, aber keine Bakterien
Das Überraschende jedoch: In zwei Gruppen von Protisten fanden die Wissenschaftler zwar Viren-DNA, aber keine Bakterien. Dabei handelte es sich zum einen um Choanoflagellaten, auch Kragengeißeltierchen genannt, die als die engsten einzelligen Verwandten aller mehrzelligen Tiere gelten. Die zweite Einzellergruppe sind die erst 2013 entdeckten Picozoa. Mit einer Größe von nur gut drei Mikrometern sind sie die kleinsten frei im Meer schwimmenden Organismen überhaupt.
„Viele dieser Protistenzellen enthalten die DNA einer breiten Palette von Viren, aber keine Bakterien“, sagt Stepanauskas. Diese Einzeller können die in ihnen gefundenen Erreger daher nicht nur als „Beifang“ aufgenommen haben. Hinzu kommt, dass Picozoa einen so kleinen Fressapparat haben, dass Bakterien nicht hineinpassen. Andererseits scheinen sie auch keine Wirte für diese Viren zu sein. Denn das Erbgut stammte größtenteils von bakterienbefallenden Viren, wie die Forscher berichten.
Es müssen echte Virenfresser sein
Wie aber sind die Viren dann in die Einzeller gekommen? Für das Team bleibt nur eine Erklärung übrig: Diese Protisten müssen Virenfresser sein. Choanoflagellaten und Picozoa könnten damit die ersten bekannten Lebewesen sein, die sich gezielt von Viren ernähren. „Das war eine wirklich große Überraschung, denn dieses Ergebnis widerspricht den gängigen Vorstellungen zur Rolle der Viren und Protisten im marinen Nahrungsnetz“, sagt Stepanauskas.
Die einzelligen Winzlinge haben sich demnach eine Nahrungsquelle erschlossen, die in ihrer marinen Umgebung reichlich vorkommt und die ihnen wertvolle Nährstoffe liefern kann. „Viren sind reich an Phosphor und Stickstoff und sind daher für diese Protisten eine gute Ergänzung zu ihrer kohlenstoffreichen Nahrung aus organischen Kolloiden oder kleinen Zellen“, erklärt Koautorin Julia Brown vom Bigelow Laboratory.
Wichtige Akteure in der marinen Mikrobiologie
Sollte sich dies bestätigen, wären Kragengeißeltierchen und Picozoa wichtige Mitspieler in der Welt der marinen Mikroorganismen. Denn indem sie bakterienbefallende Viren wegfressen, verringern sie die Erregerbelastung für die Bakterien in ihrem Umfeld. Welche ökologischen Effekt dies nach sich zieht, muss nun weiter untersucht werden.
Die Wissenschaftler wollen zudem ermitteln, ob und wie sehr die Protisten immun gegen die von ihnen verschluckten Viren sind. „Künftige Forschung könnte sich beispielsweise anschauen, inwieweit diese Einzeller DNA-Sequenzen ihrer viralen Beute in ihrem eigenen Genom anreichern und welche Schutzmechanismen sie gegen einen Infektion entwickelt haben“, sagt Brown. (Frontiers in Microbiology, 2020; doi: 10.3389/fmicb.2020.524828)
Quelle: Frontiers