Enger Kulturfolger: Die Ausbreitung der Hausratte in Europa ist eng mit unserer eigenen Geschichte verknüpft, wie eine Studie bestätigt. Demnach kamen diese Nagetiere vor rund 3.000 Jahren über Fernhandelsrouten aus Asien in den Mittelmeerraum. Von dort aus breiteten sich die Ratten mit den Römern nach Mittel- und Nordeuropa aus. Eine zweite Einschleppungswelle folgte im frühen Mittelalter, als der Handel nach dem Kollaps des römischen Reichs wieder Fahrt aufnahm.
Die Hausmaus, die Hausratte (Rattus rattus) und die Wanderratte (Rattus norvegicus) sind enge Kulturfolger des Menschen. Im Laufe der Jahrtausende haben sie sich perfekt an das Leben in unseren Siedlungen und von unseren Vorräten angepasst. Gleichzeitig gelten sie als besonders erfolgreiche Bioinvasoren – sie haben ausgehend von ihrem asiatischen Ursprung die gesamte Welt erobert. Großstadtratten haben inzwischen sogar spezielle Merkmale entwickelt, um im Betondschungel besser überleben zu können.
Auf der Spur der Hausratten
Doch trotz dieser engen gemeinsamen Entwicklung war bislang unklar, wann und wie die ersten Hausratten nach Europa gelangten. Um dies zu klären, hat ein internationales Forschungsteam um He Yu vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig nun erstmals die Geschichte der europäischen Hausratten mithilfe von Genomvergleichen rekonstruiert.
Für ihre Studie analysierten die Forschenden zunächst die mitochondriale DNA von 67 Hausratten, die vom zweiten Jahrtausend vor Christus bis zum 17. Jahrhundert in Europa, Nordafrika und Asien gelebt hatten. Zusätzlich untersuchten sie auch das Zellkern-Erbgut von 36 Ratten aus dieser Zeitspanne und zogen auch moderne Gendaten von Hausratten hinzu.
Über Handelsrouten ans Mittelmeer
Die Analysen enthüllten: Anders als bisher angenommen gelangten die ersten Hausratten wahrscheinlich nicht mit Schiffen nach Europa, sondern auf dem Landweg. Denn die historischen und modernen Ratten tragen nicht nur Erbgut ihrer südasiatischen Urahnen in sich, sondern auch von Rattenpopulationen aus dem Iran, dem mittleren Osten und dem persischen Golf, wie die Forschenden ermittelten.
Demnach erreichten die ersten Ratten vor etwa 3.000 Jahren über die Fernhandelsrouten aus Asien erst Mesopotamien, dann die Levante und den östlichen Mittelmeerraum. Von dort aus breiteten sich die Hausratten während der Antike und vor allem der Römerzeit dann weiter nach Norden und Westen aus.
Mit den Römern über Europa ausgebreitet
Den größten Schub erhielt diese Migration dabei mit der Ausdehnung des römischen Reichs vor rund 2.000 Jahren. Die Ratten gelangten mit römischen Getreidetransporten und anderen Handelsgütern aus dem Mittelmeerraum in den Rest Europas und siedelten sich dann dort in den wachsenden Städten an. Nach Ansicht der Forschenden spiegelt diese „römische Expansion“ der Hausratte die enge Verbindung dieses Nagetiers zu unserer eigenen geschichtlichen Entwicklung wider.
„Wir haben schon vermutet, dass die römische Expansion die Ratten nordwärts nach Europa gebracht haben könnte“, sagt Koautor David Orton von der University of York. „Aber ein bemerkenswertes Ergebnis unserer Studie ist, dass es sich dabei um ein einzelnes Ereignis zu handeln scheint: Alle unsere römischen Rattenknochen von England bis Serbien bilden genetisch gesehen eine einzige Gruppe.“
Spätantiker Einbruch bei Mensch und Ratten
Dann jedoch folgte ein Einschnitt – für Mensch und Ratte: Mit dem Ausbruch der Justinianischen Pest im sechsten Jahrhundert rafften wiederholte Seuchenwellen, Missernten und Hungernöte bis zu einem Drittel der menschlichen Bevölkerung in Europa und im Nahen Osten dahin. Dies förderte den Kollaps des römischen Reichs und das Ende der Spätantike.
Auch die Rattenpopulation in Europa brach zu diesem Zeitpunkt drastisch ein, wie die DNA-Analysen ergaben. Als Folge dieses Einbruchs verschwanden die Ratten aus vielen Regionen Europas. Das Team vermutet, dass der Kollaps des Handels, die plötzlich knapper werdenden Nahrungsvorräte und klimatische Veränderungen der Spätantike den Raten ebenso zusetzten wie ihren menschlichen Zeitgenossen.
Zweite Ausbreitungswelle im Frühmittelalter
Erst im Frühmittelalter lebten Städte und Fernhandel in Europa wieder auf – und prompt kehrten vor rund tausend Jahren auch die Hausratten zurück. Die DNA-Analysen legen nahe, dass es dabei zu einer zweiten Ausbreitungswelle kam, bei der sich die Nagetiere ausgehend vom Mittelmeerraum erneut über Europa ausbreiteten. Der Großteil dieser neu eingeschleppten Ratten unterschied sich dabei genetisch deutlich von ihren „römischen“ Vorgängern, wie das Team berichtet.
„Als die Ratten im Mittelalter wiederauftauchen, sehen wir eine völlig andere genetische Signatur – aber auch hier bilden alle unsere Proben von England über Ungarn bis Finnland eine einzige Gruppe“, sagt Orton. „Einen deutlicheren Beweis für die wiederholte Besiedlung Europas hätten wir uns nicht wünschen können.“ Nur im Norden und Westen Europas mischten sich die mittelalterlichen Neuankömmlinge mit kleineren Restbeständen der römischen Hausratten.
Enge Verknüpfung von Ratte und Mensch
Und auch bei der mittelalterlichen Ausbreitung der Ratten war der Mensch der entscheidende Faktor, wie Yu und ihre Kollegen erklären: Die Herrschaft der fränkischen Karolinger ab dem achten Jahrhundert belebte erneut den Handel vom Mittelmeerraum aus nach Norden. Dabei spielten die Flüsse Rhein und Rhone als Schifffahrtsrouten für den Frachtverkehr eine wichtige Rolle – über sie könnten auch die Hausratten zurück nach Europa gelangt sein.
„Diese Studie ist ein großartiges Beispiel dafür, wie der genetische Hintergrund von Arten wie der Hausratte menschliche historische oder ökonomische Ereignisse widerspiegeln kann“, sagt Yu. „Wir können noch viel von diesen häufig nicht für wichtig befundenen kleinen Tieren lernen.“
Die im Frühmittelalter begonnene Renaissance der europäischen Hausratten endete erst wieder vor rund 200 Jahren. Diesmal war allerdings ein tierischer Konkurrent schuld: Die aus Asien neu eingewanderte Wanderratte (Rattus norvegicus) verdrängte die kleinere Hausratte aus großen Teilen Nordeuropas. Im Rest Europas und vor allem in den Städten hält sich die Hausratte aber bis heute. (Nature Communications, 2022; doi: 10.1038/s41467-022-30009-z)
Quelle: Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie