Rechts und links schon bei Seeanemonen: Die Mechanismen zur Ausprägung unserer Körperachsen sind wesentlich älter als gedacht. Schon gemeinsame Vorfahren von Mensch und Seeanemone vor 600 Millionen Jahren verfügten über die nötigen Signalwege, wie genetische Untersuchungen zeigen. Bislang galt die Annahme, die Nesseltiere hätten lediglich oben und unten – stattdessen nutzen sie die zweite Achse auf ihre eigene Weise, schreiben Forscher im Magazin „Cell Reports“.
Oben und unten, vorne und hinten, rechts und links: Diese Richtungen in Bezug auf unseren Körper entstehen durch die Körperachsen. Die sogenannte dorso-ventrale Körperachse legt während der Entwicklung fest, wo der Rücken und wo der Bauch verläuft. Wesentlich wichtiger für uns Menschen ist die Lage von Gehirn und Rückenmark, also des zentralen Nervensystems, die ebenfalls durch diese Achse bestimmt wird.
600 Millionen Jahre zurück im Stammbaum
Aber nicht nur der Mensch, auch die meisten Tiere haben eine dorso-ventrale Achse. Entwicklungsgeschichtlich ist sie sogar so alt, dass sie bei Embryonen von Wirbeltieren und Insekten durch denselben Mechanismus ausgeprägt wird. Verantwortlich sind Signalstoffe aus Familie der Bone morphogenetic protein (BMP)-Moleküle. Diese traten vermutlich schon in gemeinsamen Vorfahren von Insekten und Wirbeltieren auf.
Wissenschaftler um Ulrich Technau von der Universität Wien sind nun noch einen großen Schritt weiter zurück im Stammbaum gegangen: Sie untersuchten die Funktion der BMPs während der embryonalen Entwicklung von Seeanemonen, die vor etwa 600 Millionen Jahren entstanden. Diese Nesseltiere gelten in vielen Lehrbüchern als radiärsymmetrisch: Sie haben nur eine einzige offensichtliche Körperachse, die oral-aborale Achse vom Kopfende in Richtung Fuß. Seeanemonen kennen demnach oben und unten, aber kein vorne und hinten oder rechts und links.
Gemeinsamer Vorfahr von Mensch und Seeanemone
Technau und seine Kollegen fanden aber heraus, dass auch die Seeanemonen offenbar eine Art Bauch und Rücken haben. Die Art Nematostella vectensis verfügt sogar über mehrere verschiedene BMP-Moleküle und deren Gegenspieler. Das System aus Signalmolekülen für die Bildung der Rücken-Bauch-Körperachse entwickelte sich demnach bereits vor 600 Millionen Jahren im gemeinsamen Vorfahren von Mensch und Seeanemone.
Diese Signalmoleküle interagieren in einem frühen Entwicklungsstadium in einem komplexen Netzwerk und bauen im Körper des Embryos einen Konzentrationsgradienten auf. Wie auch bei den Wirbeltieren legt dieser Gradient die Richtung einer Körperachse fest, „allerdings überraschenderweise quer zur oral-aboralen Hauptachse des Tieres“, wie Technau erklärt: „Dadurch wird in den Seeanemonen eine innere Querachse aufgebaut.“
Falten statt Nerven
Die Forscher schließen aufgrund von molekular-genetischen Analysen, dass der BMP-Signalweg von Vertretern dieser alten tierischen Linie wie den Seeanemonen bereits für die Bildung einer zweiten Achse genutzt wird. Im Gegensatz zu den Wirbeltieren wird dieser Signalweg jedoch anders interpretiert: Statt eines Nervensytems legt er die Position von mehreren inneren Einfaltungen fest. In diesen sogenannten Septen oder Mesenterien bilden sich die Längsmuskeln und die Geschlechtsorgane. Die Seeanemonen nutzen diesen Mechanismus also für ihre ganz eigene Art einer zweiten Körperachse.
Die genetische Untersuchung brachte eine noch tiefer gehende Überraschung zutage: Im Laufe des Signalweges auch mehrere sogenannte „Hox-Gene“ aktiviert. Gene dieser Gruppe sind aber bei den meisten Tieren entscheidend für eine ganz andere Körperachse, nämlich die anterior-posterioren Achse. Diese Hauptachse des Körpers legt die sogenannten segmentalen Ausprägungen wie Rippen, Arme und Beine fest. Die nun bei der Seeanemone gefundene Verknüpfung eines dorso-ventralen Signalwegs mit Regulatorgenen der anterior-posterioren Achse ist völlig neu.
Unterschiedliche Strukturen aus ähnlichen Mechanismen
Die Forscher fragten sich nun weiter, wie sich solche Netzwerke von Regulator-Molekülen über Jhunderte Millionen Jahre verändern können, um schließlich trotz ähnlicher Funktionsweise unterschiedliche Strukturen in verschiedenen Tieren zu erzeugen. Mit mathematischen Modellen zeigten sie, welche Teile dieses Netzwerks bis heute konstant geblieben sind und welche sich abwandeln konnten, um neue Funktionen in der Evolution hervorzubringen.
„Das BMP-Netzwerk der Seeanemonen ist also nicht nur ein Beispiel für ein Signalsystem, das über 600 Millionen Jahre in den Aufbau der Körperachsen involviert ist, sondern wir lernen auch daraus, wie sich solche wichtigen Netzwerke weiter entwickeln können“, so Technau abschließend. (Cell Reports, 2015; doi: 10.1016/j.celrep.2015.02.035)
(Universität Wien, 18.03.2015 – AKR)