Autismus-Erkrankungen gehören zu den häufigsten Entwicklungsstörungen des menschlichen Gehirns. Sie sind durch ein gestörtes Sozialverhalten, eine verzögerte oder völlig ausbleibende Sprachentwicklung und sich wiederholende Verhaltensmuster charakterisiert und werden hauptsächlich durch genetische Faktoren verursacht. Göttinger Hirnforscher haben nun in Mäusen die Folgen einer genetischen Veränderung untersucht, die beim Menschen zu einer familiär erblichen Form des Autismus führt.
Entsprechend genetisch veränderte Tiere zeigen selektive Störungen im Kommunikations- und Sozialverhalten, die den Symptomen von Autismus ähneln. Die Wissenschaftler gehen in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift PNAS davon aus, dass ihr neues Tiermodell die Entwicklung von Autismus-Therapien erheblich beschleunigen wird.
Raymond lernt Telefonbücher auswendig, kann 1.045 und 346 in Windeseile multiplizieren und hat die restlichen, noch verdeckten Karten bei einem Kartenspiel im Kopf. Andererseits ist er völlig unfähig, den normalen Alltag zu bewältigen. Er kann kommunizieren und versteht, was man zu ihm sagt, doch wirklich begreifen tut er nur das wenigste. Der US-amerikanische Spielfilm ‚Rain Man‘ schilderte die Alltagssituation eines Autisten.
Tatsächlich sind die im Film beschriebenen Inselbegabungen und Hochbegabung bei Autisten jedoch eher selten – etwa 60 Prozent der Betroffenen leiden unter einer geistigen Behinderung. Doch die typischen Symptome des Autismus wie Störungen beim Spracherwerb, ein gestörtes Sozialverhalten sowie stereotype oder sich wiederholende Interessen und Verhaltensweisen brachte Dustin Hoffman in der Rolle des Raymond eindrucksvoll zum Ausdruck.
Gene entscheidend beteiligt
Der Begriff Autismus umfasst eine ganze Gruppe von Erkrankungen. Sie werden ganz wesentlich durch genetische Faktoren verursacht, wie Forscher bereits vor Jahren durch Studien an eineiigen Zwillingen nachgewiesen haben: Leidet einer der beiden Zwillinge an Autismus, dann erkrankt der zweite Zwilling mit einer Wahrscheinlichkeit von fast 90 Prozent ebenfalls an einer autistischen Störung.
Darüber hinaus zeigen neueste Erkenntnisse, dass Autismus in etwa ein bis drei Prozent aller Fälle – ähnlich wie die Mukoviszidose – sogar durch die Mutation eines einzigen Gens hervorgerufen werden kann. „Bei den meisten dieser monogen erblichen, nicht-syndromalen Autismus-Formen ist das Neuroligin-4-Gen mutiert“, erklärt Nils Brose vom Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin in Göttingen. Dieses Gen ist für die Produktion eines Proteins verantwortlich, das die Signalübertragung zwischen Nervenzellen reguliert.
Zusammen mit der Neurologin und Psychiaterin Hannelore Ehrenreich aus der Division Klinische Neurowissenschaften am Göttinger Max-Planck-Institut und der Verhaltensforscherin Julia Fischer vom Deutschen Primatenzentrum in Göttingen hat der Neurobiologe eigens erzeugte genetisch veränderte Mäuse untersucht. Sie besitzen – genau wie die entsprechenden Autismus-Patienten – kein funktionierendes Neuroligin-4-Gen mehr.
Mäuse mit Autismussymptomen
Vollkommen überrascht zeigten sich die Forscher vom Verhalten dieser Mäuse, das in bestimmten Bereichen deutlich an Autismus erinnert: „Im Gegensatz zu ihren normalen Geschwistern zeigen Mäuse mit einer Neuroligin-4-Mutation kein besonderes Interesse für ihre Artgenossen. Und was noch interessanter ist: Sie kommunizieren weniger mit anderen Mäusen“, sagt Brose. Normale Mäuse tauschen sich mittels Ultraschall-Rufen untereinander aus, etwa wenn ein Männchen auf ein brünstiges Weibchen trifft. Diese Art der Kommunikation ist bei Neuroligin-4-mutanten Mäusen erheblich gestört.
Weil diese Mäuse keine anderen Verhaltensauffälligkeiten zeigen, glauben die Göttinger Forscher, dass ihr Tiermodell auf ideale Weise für die Autismus-Forschung geeignet ist. „In gewisser Weise kopieren unsere Mäuse die Leitsymptome von Autismus beim Menschen. Was die Selektivität der mit Autismus vergleichbaren Verhaltensänderungen angeht, gibt es aus unserer Sicht derzeit kein besseres Tiermodell für Autismus als unsere Mäuse“, meint Brose. Ob dieses Tiermodell zur Entwicklung neuer Diagnose- und Therapieverfahren dienen kann, sollen weitere Studien zeigen.
(idw – MPG, 29.01.2008 – DLO)