Genetik

Wie neue Gene aus dem Nichts entstehen

Fehler bei der DNA-Replikation können kleinere Gene generieren

Skizze eines DNA-Stranges mit eingefärbtem Abschnitt
In unserer DNA treten immer wieder zufällige Veränderungen auf, die zu neuen Genen führen können. Wie das passiert, offenbart eine aktuelle Studie. © Naeblys / Getty Images

Ursprung entdeckt: Unter bestimmten Umständen können in unseren Zellen neue Gene entstehen. Wie dies vonstatten geht, haben nun Forschende aufgeklärt. Demnach entstehen durch Fehler bei der DNA-Replikation manchmal Palindrome in unserer DNA– Sequenzen, deren Code vorwärts und rückwärts abgelesen gleich ist. Diese Abschnitte können zur Bildung neuer regulatorischer Gene führen – und damit zu den DNA-Sequenzen, die die Aktivität anderer Gene in unserem Erbgut steuern.

Unser Genom umfasst mehr als 20.000 Gene, die über die Abfolge ihrer DNA-Basen den Bauplan für Proteine kodieren. Darüber hinaus befinden sich in unserem Erbgut aber noch tausende weitere DNA-Abschnitte, die regulieren, welche der proteincodierenden Gene wann aktiv sein sollen. Die meisten dieser regulatorischen Gene sind so klein, dass sie nur ein paar Dutzend Basenpaare umfassen.

Die Gesamtzahl unserer Gene ist zwar relativ konstant, kann sich aber gelegentlich verändern, beispielsweise durch Verdopplung oder den Gentransfer zwischen Arten. Im Zuge der Evolution können jedoch auch gänzlich neue regulatorische Gene hinzukommen und erhalten bleiben, sofern sie für die Träger von Vorteil sind. Wie genau das passiert, war allerdings bislang unklar.

Wie bilden sich microRNAs?

Ein Team um Heli Mönttinen von der Universität Helsinki ist diesem Mysterium nun nachgegangen. Die Forschenden konzentrierten sich dabei auf die bislang bekannten regulatorischen Gene in unserer DNA. Wenn diese winzigen Gene abgelesen werden, bilden sich sogenannte microRNA-Moleküle, die nach einem Reifeprozess nur noch etwa 22 Basen aufweisen. Sie enthalten kurze Basenabfolgen, die vorwärts und rückwärts denselben „Text“ ergeben – genetische Palindrome.

„Solche Palindrome sind nötig, damit die ansonsten kettenförmige RNA sich wie eine Haarnadel faltet und in dieser Form ihre regulierende Funktion erfüllen kann“, erklärt Mönttinens Kollege Mikko Frilander. Dabei binden stets zwei benachbarte Palindrome aneinander. Dass diese Genabschnitte durch zufällige Mutationen einzelner „Buchstaben“ in der DNA entstehen, ist den Forschenden zufolge sehr unwahrscheinlich.

Grafische Darstellung des Fehler-Mechanismus bei der DNA-Replikation
Die Forschenden untersuchten einen Fehler-Mechanismus bei der DNA-Replikation und stellten fest, dass einige Fehler Palindrome erzeugen. © Ari Löytynoja

Genvergleich offenbart Mechanismus

Um herauszufinden, wie es stattdessen zu diesen palindromhaltigen microRNAs kommt, haben Mönttinen und ihre Kollegen daher untersucht, ob ein bereits bekannter Mechanismus der Auslöser sein könnte: Beim sogenannten „Template switching“ während der Zellteilung wird bei der DNA-Replikation zeitweise und an zufälligen Stellen vom falschen DNA-Strang abgelesen. Dadurch passieren Fehler, die über einzelne falsche DNA-Basen hinaus gehen. „Wir haben einen Mechanismus untersucht, der größere Fehler verursacht, ähnlich dem Kopieren und Einfügen von Text aus einem anderen Kontext“, berichtet Seniorautor Ari Löytynoja von der Universität Helsinki. „Besonders interessierten uns Fälle, in denen der Text rückwärts kopiert wurde, sodass ein Palindrom entstand.“

Mithilfe eines selbst entwickelten Computer-Algorithmus berechneten die Forschenden, ob die palindromhaltigen Gene des Menschen auf diesem Weg entstanden sein könnten. Dabei verglichen sie das menschliche Genom mit dem anderer Primaten sowie das von Labormäusen mit ihren Verwandten und prüften, welche Arten bestimmte microRNAs mit Palindromen aufweisen und welche nicht.

Ein einziger Fehler bei der DNA-Replikation reicht aus

Die Analysen offenbarten, dass der beschriebene Fehlermechanismus bei der DNA-Replikation tatsächlich vollständige DNA-Palindrome und neue microRNA-Gene aus zuvor nicht kodierenden DNA-Sequenzen erzeugen kann. Das passiert demnach in nur einem Schritt und nicht durch wiederholte Einzelmutationen. „Mit der detaillierten Modellierung unserer Gengeschichte konnten wir sehen, dass ganze Palindrome durch einzelne Mutationsereignisse entstehen“, sagt Mönttinen.

Damit aus diesen Fehlerereignissen auch funktionelle neue RNA-codierende Gene werden, müssen die Fehler allerdings an bestimmten Stellen in der DNA passieren, wie die Modelle nahelegen. Denn häufig finden sich die neuen regulatorischen Gene in der Nähe der Startpunkte von proteincodierenden Genen. Das deutet daraufhin, dass die Maschinerie der Zellen die neuen Gene nur unter diesen Umständen ablesen kann.

Grafische Darstellung der Studienergebnisse
Die Forschenden modellierten die Gengeschichte anhand von Informationen verwandter Arten. Die Analyse ergab, dass die Palindrome von microRNA-Genen durch einzelne Mutationsereignisse erzeugt werden. © Ari Löytynoja

Den Analysen des Teams zufolge sind über diesen Mechanismus im Laufe der menschlichen Evolution mindestens 6.000 neue palindromhaltige Sequenzen entstanden, die theoretisch Vorläufer von microRNAs sein könnten. Aber nur etwa ein Viertel aller 69 funktionellen microRNA-Gene, die im Zuge der Evolution der Primaten neu gebildet wurden, gehen auf diesen Prozess zurück. Bei uns Menschen führte dies zu mindestens 18 neuen regulatorischen Genen, berichten die Forschenden. Der Mechanismus scheint zudem in der Natur universell zu sein, da Mönttinen und ihre Kollegen solche Fälle auch in der Evolutionslinie der Labormäuse fanden.

Grundlegendes Prinzip in der Natur entdeckt

Die Erkenntnisse erweitern unser Verständnis der Grundprinzipien des Lebens. „Die Entstehung neuer Gene aus dem Nichts hat Forschende schon immer fasziniert. Jetzt haben wir ein elegantes Modell für die Evolution von RNA-codierenden Genen“, sagt Mönttinen. Die Entstehung von microRNA-Genen sei so einfach und häufig, dass neue regulatorische Gene eine relativ schnelle Anpassung an veränderte Umweltbedingungen ermöglichen und die Evolution beschleunigen können.

Im Prinzip könnten neue microRNAs positive oder negative Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit gehabt haben oder künftig haben. In welchen Fällen dies zutrifft, müssen jedoch weitere Studien aufklären. Obwohl ihre Ergebnisse auf kleinen regulatorischen Genen basieren, glauben die Forschenden, dass die Erkenntnisse auf andere RNA-codierende Gene und RNA-Moleküle übertragen werden können. Durch den neu entdeckten Mechanismus und die natürliche Selektion könne die Natur möglicherweise auch viel komplexere RNA-Strukturen als die microRNAs schaffen. (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2023; doi: 10.1073/pnas.2310752120)

Quelle: Universität Helsinki

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