Fischiger Durchblick: Heringe besiedeln erst seit rund 10.000 Jahren die Ostsee – auch dank einer Mutation. Denn ein verändertes Sehpigment half den Fischen entscheidend dabei, in der neuen Umgebung zurechtzukommen, wie eine Studie nun enthüllt. Die Mutation in diesem Pigment ermöglichte es den Heringen, auch in dem brackigen, nährstoffreichen und dadurch rötlicheren Wasser der Ostsee den Durchblick zu behalten, wie die Forscher berichten.
Die in der Ostsee lebenden Heringe sind eigentlich Einwanderer. Denn sie stammen von Atlantischen Heringen ab, die erst im Laufe der letzten rund 10.000 Jahren die Ostsee kolonisiert haben. Beim Wechsel in diesen neuen Lebensraum mussten sich die Fische jedoch an einige Veränderungen anpassen. So ist die Ostsee deutlich flacher, wärmer und nährstoffreicher als der Nordatlantik. Zudem liegt der Salzgehalt des Ostseewassers um das bis zu Zehnfache niedriger als im Atlantik.
„Rote“ Ostsee
Doch diese Unterschiede sind nicht nur für die Physiologie der Fische eine Herausforderung, auch die visuelle Umgebung ändert sich für die Heringe damit. „Verglichen mit Meerwasser enthält das Brackwasser der Ostsee einen höheren Gehalt an gelöstem organischem Material“, berichten Jason Hill von der Universität Uppsala und seine Kollegen. Dadurch streut das Ostseewasser kurzwelliges blaues Licht stärker und die marine Umgebung erscheint rötlicher als im Nordatlantik.
Für den Hering bedeutet dies: Um sich in der Ostsee zu orientieren und rechtzeitig vor Fressfeinden fliehen zu können, muss sich die Sehweise der Fische an das rötlichere Licht angepasst haben – so zumindest der Verdacht von Hill und seinem Team. Um das zu überprüfen, verglichen sie die DNA von Atlantischem und Ostsee-Hering und richteten ihr Augenmerk dabei besonders auf die genetische Basis der Sehpigmente im Fischauge.
Mutation im Sehpigment
Die DNA-Analysen enthüllten: Einer der auffälligsten genetischen Unterschiede zwischen den beiden Heringspopulationen findet sich tatsächlich im Sehpigment Rhodopsin. Bei den Ostsee-Heringen ist in diesem Pigment an einer Stelle die Aminosäure Phenylalanin gegen Tyrosin ausgetauscht, wie die Forscher berichten. Auslöser dafür ist die Mutation nur eines einzigen Genbuchstabens im Rhodopsin-Gen der Ostsee-Heringe.
Doch diese winzige Mutation hat erhebliche Folgen. Denn sie verschiebt die Lichtempfindlichkeit des Sehpigments um rund zehn Nanometer in den roten Bereich. „Dadurch kann die Netzhaut der Ostsee-Heringe mehr Photonen aus der ins Rötliche verschobenen Umgebung der Ostsee aufnehmen, erklären Hill und sein Team. Sie vermuten, dass vor allem die Jungfische dadurch Fressfeinde früher erkennen und ihnen ausweichen können.
„Dieser Austausch nur einer Aminosäure spielte daher für die Anpassung der Heringe an die Ostsee eine entscheidende Rolle“, sagt Hill.
Rasend schnell durchgesetzt
Interessant auch: Diese genetische Anpassung geschah nach evolutionären Maßstaben rasend schnell. Den Genvergleichen zufolge breitete sich die Mutation in nur 23 bis 65 Fischgenerationen unter den Ostsee-Heringen aus. „Wir schätzen, dass sich diese Rhodopsin-Variante innerhalb von nur wenige hundert Jahren zur dominierenden Form entwickelte“, sagt Koautor Mats Pettersson von der Universität Uppsala. „Um einen so rapiden Wandel hervorzurufen, ist eine sehr starke Selektion nötig.“
Die Mutation selbst ist allerdings nicht erst bei den Ostsee-Heringen erstmals aufgetreten. Die Forscher ermittelten, dass dieser Austausch der Aminosäuren schon vor 42.000 Jahren erstmals bei einem Hering aufgetreten ist – lange bevor die Ostsee überhaupt entstanden ist. Doch bei den Heringen im Atlantik konnte sich die Mutation nicht halten – sie bot den Fischen im eher bläulichen Meerwasser mehr Nachteile als Vorteile.
Ein Drittel aller Süßwasserfische „sieht rot“
Doch die Heringe sind keineswegs die einzigen Fische, deren Sehpigment auf diese Weise verändert ist, wie eine gezielte Fahndung im Erbgut von mehr als 2.500 Fischarten aus dem Salz- und Süßwasser ergab. Stattdessen hat sich diese Mutation des Rhodopsins im Verlauf der Fisch-Evolution mehr als 20 Mal unabhängig voneinander ereignet.
Dadurch besitzen inzwischen rund ein Drittel aller Fische des Süß- und Brackwassers das für rötliches Licht optimierte Sehpigment. Meeresfische dagegen haben nahezu alle das ursprüngliche Rhodopsin behalten. „Das ist ein wirklich erstaunliches Beispiel für eine konvergente Evolution auf der molekularen Ebene“, sagt Hills Kollege Erik Enbody.
Einen besonders interessanten Fall stellen dabei die Fische dar, die im Laufe ihres Lebens von einem Milieu ins andere wechseln: Lachse leben zwar größtenteils im Meer, wachsen aber im Süßwasser heran – und besitzen die Rhodopsin-Mutation. Bei den Aalen, die vom Meer ins Süßwasser wechseln, fehlt dagegen diese Mutation. Nach Ansicht der Forscher stützt dies ihre Vermutung, dass diese Anpassung der Sehfähigkeit vor allem den Jungfischen zugutekommt. (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2019; doi: 10.1073/pnas.1908332116)
Quelle: Uppsala University