Fühlige Sicht: Die Sinnesinformationen unseres Tast- und Sehsinns fließen offenbar weit früher zusammen als bisher angenommen, wie eine Studie mit Mäusen nahelegt. Demnach werden schon in deren primärem Sehzentrum nicht nur optische Reize verarbeitet, sondern auch Berührungen. Diese bringen die dortigen Neuronen ebenfalls zum Feuern und hemmen dabei sogar die Reaktion auf visuelle Reize. Diese Beobachtungen könnten auch neue Einblicke in die Sinnesverarbeitung des Menschen ermöglichen.
Um uns in unserer Umwelt zu orientieren oder eine Situation zu beurteilen, nutzen wir alle unsere Sinne – und das meist gleichzeitig: Wir sehen, fühlen und riechen einen vollreifen Apfel, der beim Reinbeißen knackt und säuerlich-süß schmeckt. Auch wenn wir etwa andere Menschen umarmen, riechen wir gleichzeitig ihr Haar und fühlen ihre Kleidung an unserer Haut. Bei Menschen mit Synästhesie ist die Sinneskombination etwas ungewöhnlicher: Sie hören Farben oder riechen Wochentage. Doch wie genau das Gehirn die verschiedenen Sinneswahrnehmungen zu einem Gesamtbild verknüpft, ist noch unklar.
Mäuse im Sinnestest
Dieser Frage gingen Forscher um Simon Weiler vom University College London auf den Grund: Sie untersuchten, wo und wie Mäuse gleichzeitig aufgenommene visuelle und taktile Informationen im Gehirn integrieren. Bisher ging man davon aus, dass dies erst in einem relativ späten Stadium der Informationsverarbeitung passiert. Für ihre Studie ließen sie Testmäuse auf leuchtende Bildschirme blicken und stimulierten gleichzeitig deren Schnurrhaare mit einem kleinen Metallstab oder durch kleine Luftstöße.
„Als sich der Lichtbalken von der Unterseite des Monitors zu bewegen begann, kitzelte der Metallbalken gleichzeitig die Schnurrhaare“, berichten Weiler und sein Team. Anhand von bildgebenden Verfahren, einer Zelldichtekarte, sowie einem virtuellen 3D-Modell der Schnurrhaar-Schaltkreise ermittelten sie dann, welche Bereiche im Mäusehirn auf diese parallelen Reize reagierten.
Gleiche Gehirnregion für Tast- und Sehsinn
Das Ergebnis: „Die Tast- und Bildinformationen vom selben Ausschnitt der Umgebung führen auch im Gehirn in einem scharf abgegrenzten Areal zu Aktivität. Dabei entdeckten wir, dass ein Bereich der primären Sehrinde auch bei Tastreizen aktiviert wird“, sagt Koautor Johann Wutke von der Universität Jena. Dieses aktivierte Aral entspricht dabei genau dem Bereich im Sichtfeld der Mäuse, in dem sich der Tastbereich der Schnurrhaare mit deren Blickfeld überschneidet.
Überraschend daran: Die primäre Sehrinde ist gängiger Annahme nach nur für die Verarbeitung optischer Reize zuständig. Bislang ging man deshalb davon aus, dass die Zusammenführung der taktilen und visuellen Sinneseindrücke erst in einem späten Stadium der neuronalen Informationsverarbeitung stattfindet. Doch augenscheinlich kombinieren sich Sinnesinformationen verschiedener Reizkanäle schon früher. „Bereits die primäre Verarbeitung findet also nicht isoliert statt“, resümiert Wutke.
Wer mehr ertastet, sieht weniger
Und nicht nur das: Das Kitzeln der Schnurrhaare veränderte auch die Intensität der visuellen Aktivität in der Sehrinde. Je stärker die mechanische Stimulation war, desto stärker hemmte sie die Amplitude der Signale, die durch die optischen Reize ausgelöst wurden. Dieser Zusammenhang gilt allerdings nur für den scharfen Umweltausschnitt, in dem sich beide Reize überlappen. Umgekehrt hingegen hatten die optischen Reize keinen Einfluss auf die Verarbeitung der taktilen Reize.
Nach Angaben von Weiler und seinen Kollegen tritt ein ähnlicher Hemmeffekt auf, wenn die Mäuse Tastreize und Höreindrücke gleichzeitig verarbeiten – die Tastreize schwächen die Aktivität der Hörrinde. „Dieser Hemmeffekt könnte dazu dienen, die taktilen Reize von nahen Objekten, die unmittelbare Aufmerksamkeit verlangen, zu priorisieren“, erklärt das Team. Für die Maus ist es in diesem Moment wahrscheinlich wichtiger, die Berührung zu verarbeiten als den Hör- oder Sehreiz. Und weil beides neuronale Ressourcen benötigt, erhalten die Tastreize Vorrang.
Umstrukturierungsprozesse im Gehirn
„Zusammengenomen liefert unsere Studie direkte anatomische und physiologische Belege dafür, dass die multisensorische Integration schon auf der Ebene der primären Areale der Hirnrinde stattfinden“, konstatieren die Forscher. Ihre Ergebnisse könnten nun auch Aufschlüsse über den menschlichen Tast- und Sehsinn und die Verknüpfung unserer Sinneswahrnehmungen geben.
„Wir wissen, dass Hör- und Tastsinn bei erblindeten Menschen oft deutlich sensibler werden. Mit unserer Grundlagenforschung zur multisensorischen Verarbeitung wollen wir zum Verständnis der zugrundeliegenden Umstrukturierungsprozesse im Gehirn beitragen, die ähnlich wahrscheinlich auch nach Lähmungen oder Schlaganfällen auftreten“, sagt Seniorautor Manuel Teichert von der Universität Jena.
Künftige Experimente könnten vorerst weitere Details untersuchen: Welchen Einfluss haben Tastwahrnehmungen etwa auf die Sehschärfe, Kontrastempfindlichkeit oder das Orientierungsvermögen? Wie ändert sich die Aktivität in den Hirnarealen, während und nachdem eine Maus vorübergehend nichts sehen kann? Und welche strukturellen Veränderungen löst ein dauerhafter Sehverlust im Gehirn aus? (Nature Communications, 2024; doi: 10.1038/s41467-024-47459-2)
Quelle: Universitätsklinikum Jena