Von wegen chaotischer Haufen: Forscher haben erstmals die Struktur mikrobieller Gemeinschaften auf unserer Zunge sichtbar gemacht. Ihre Aufnahmen enthüllen, dass sich die Bakterien mitnichten nach dem Zufallsprinzip im Mund anordnen. Stattdessen lassen sich in den von ihnen gebildeten Biofilmen komplexe Muster erkennen. Weil jede Mikrobengruppe unterschiedliche Bedürfnisse hat und ein anderes Wachstumsverhalten zeigt, entsteht eine mosaikartige Siedlungsstruktur.
Jeder Mensch bietet unzähligen Bakterien einen Lebensraum: Diese Mikroben siedeln auf unserer Haut, in unserer Nase und in unserem Darm und spielen eine entscheidende Rolle für unsere Gesundheit. Das gilt auch für jene Bakterien, die unseren Mund bewohnen. „Die Zunge ist dabei besonders wichtig, weil sie eine sehr hohe Vielfalt an Mikroben beherbergt und Medizinern traditionell als erster Anhaltspunkt bei einer Untersuchung gilt“, sagt Jessica Mark Welch vom Marine Biological Laboratory in Woods Hole. „Strecken Sie mal Ihre Zunge raus, ist oft das Erste, was ein Arzt zu seinem Patienten sagt.“
Was tummelt sich wo?
Obwohl das orale Mikrobiom von so großer Bedeutung ist, liegt jedoch noch einiges über diese mikrobiellen Gemeinschaften im Dunkeln: Wie sehen die Biofilme auf der Zungenoberfläche aus? Und gibt es Bereiche, die bevorzugt von bestimmten Bakterienarten besiedelt werden? Antworten auf diese Fragen könnten wertvolle Informationen über die Untermieter auf unserer Zunge liefern, wie Welch und ihre Kollegen erklären.
So zeigt die räumliche Verteilung der Bakterien zum Beispiel, was die ideale Umgebung in Bezug auf Faktoren wie Temperatur, Feuchtigkeit oder Speichelfluss für bestimmte Spezies ist und welchen Einfluss die Mundhygiene auf die Mikroben hat. Zudem liefert das Siedlungsverhalten der Keime Hinweise auf ihre Beziehungen untereinander. Denn Bakterien beeinflussen ihre Nachbarn, indem sie sie zum Beispiel mit Nahrung versorgen oder sie mit hemmenden Substanzen bekämpfen.
„Indem sie Raum einnehmen, können sie andere von begehrten Habitaten fernhalten. Aber ihre Oberflächen dienen auch als Bindungsstellen, an die sich andere Mikroben anheften können“, erläutern die Forscher.
Fluoreszenzblick auf die Zunge
Grund genug, sich die bakteriellen Landschaften auf der menschlichen Zunge einmal genauer anzusehen: Dies haben Welch und ihr Team nun mithilfe eines neuen bildgebenden Verfahrens getan. Dabei werden verschiedene Mikrobentypen mit Fluoreszenzstoffen markiert und können so auf einen Blick voneinander unterschieden werden.
Für ihre Studie schauten sich die Wissenschaftler die Mikrobengemeinschaften auf der Zunge von 21 gesunden Probanden an. Insgesamt identifizierte das Forscherteam 17 verschiedene Bakterien-Gattungen, die auf der Zunge zahlreich vertreten waren und bei mehr als 80 Prozent der Testpersonen vorkamen. Wie sich zeigte, waren diese teilweise in mehrschichtigen Biofilmen organisiert – sogenannten Konsortien.
Erstaunlich komplexe Struktur
Das Besondere: Diese bakteriellen Zusammenschlüsse wiesen eine erstaunlich komplexe Struktur auf. So waren die unterschiedlichen Mikroben darin nicht homogen verteilt. Stattdessen dominierten je nach Bereich andere Bakteriengruppen, die Mikroben besiedelten deutlich voneinander abgrenzbare Gebiete. „Die Bakterien auf der Zunge sind viel mehr als ein zufällig zusammengewürfelter Haufen. Sie gleichen eher einem Organ unseres Körpers“, konstatiert Mitautor Gary Borisy vom Forsyth Institute in Cambridge.
Konkret stellten die Wissenschaftler unter anderem fest, dass alle Studienteilnehmer über Bakterienkonsortien der drei Gattungen Actinomyces, Rothia und Streptococcus verfügten. Dabei tummelten sich Actinomyces-Verteter meist in der Nähe des Zentrums, während Rothia-Bakterien in großen Ansammlungen an den Außenbereichen zu finden waren. Streptokokken bildeten dagegen eine Art dünne Kruste am äußeren Rand des Konsortiums, aber auch flecken- und venenartige Strukturen im Inneren.
Ein Bakterien-Mosaik entsteht
Insgesamt ermöglichen die Ergebnisse erstmals einen detaillierten Blick auf die bakteriellen Landschaften auf unserer Zunge. „Noch nie zuvor hat jemand so auf die Biofilme der Zunge geschaut und beobachtet, wie sich die unterschiedlichen Bakterien anordnen“, sagt Borisy. Dies liefere nun auch Hinweise darauf, wie diese Landschaften zustande kommen.
Wie die Forscher herausfanden, scheinen sich die Konsortien ausgehend von einem Kern aus Epithelzellen zu entwickeln. Demnach siedeln Bakterien zunächst einzeln oder in kleinen Clustern auf dem Zungenepithel und beginnen dann, sich zu vermehren. Bei diesem Prozess kommen sich unterschiedliche Bakteriengruppen mitunter in die Quere und konkurrieren miteinander. Dabei wachsen Bakterien jeweils in den Mikroumgebungen schneller, die ihren individuellen physiologischen Bedürfnissen am besten entsprechen. Durch dieses differentielle Wachstum kommt dann die einzigartige Mosaikstruktur zustande.
Vergleich mit anderen Mikrobiomen
In Zukunft wollen Welch und ihre Kollegen weiter untersuchen, wie sich die mikrobiellen Gemeinschaften auf unserer Zunge organisieren und wie die Mikroben miteinander interagieren. Denn es sind noch viele Fragen offen. Schon jetzt zeichnet sich ihnen zufolge aber ab, dass es sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede zu den Mustern gibt, die bereits von Plaques auf Zähnen oder der Darmflora von Mäusen bekannt sind. (Cell Reports, 2020; doi: 10.1016/j.celrep.2020.02.097)