Genetik

X-Chromosom des Menschen entschlüsselt

Geschlechtschromosom mit mehr als tausend Genen

X-Chromosom des Menschen © NCI

Die nahezu vollständige Sequenzanalyse des X-Chromosoms des Menschen ist jetzt gelungen. Genomforscher aus Deutschland, Großbritannien und den USA haben die Ergebnisse einem gemeinsamen Artikel in der Zeitschrift Nature veröffentlicht. Die Sequenzierung ermöglicht es, die Evolution der Geschlechtschromosomen besser zu verstehen und den Ursachen von X-chromosomal bedingten Erbkrankheiten sowie Krebserkrankungen auf die Spur zu kommen.

Geschlechtschromosomen mit Sonderstellung

Unter den 23 Chromosomenpaaren des Menschen nehmen das X- und das Y-Chromosom eine Sonderstellung ein, denn sie entscheiden über das Geschlecht eines Menschen. Diese Art der Geschlechtsbestimmung ist in der Entwicklungsgeschichte noch relativ neu. Im Laufe der Evolution hat das Chromosomenpaar die Fähigkeit zum Austausch von Erbgut und damit zur Neukombination von Genen verloren.

Wahrscheinlich wurden Gene, deren Funktion die gleichzeitige Aktivierung von zwei Kopien erfordert, vom X-Chromosom auf andere Chromosomen „ausgelagert“. Da Männer lediglich ein X-Chromosom besitzen, wirken sich Gendefekte auf diesem Chromosom auch dann aus, wenn sie rezessiv vorliegen, während sie bei Frauen nur in Erscheinung treten, wenn beide X-Chromosomen betroffen sind.

Auch musste sich in der Evolution ein diffiziler Mechanismus entwickeln, um die erhöhte Gendosis von zwei X-Chromosomen der Frau im Vergleich zum Mann zu kompensieren. Dieser als X-Inaktivierung bezeichnete Prozess schaltet sehr früh in der Entwicklung des weiblichen Embryos zufällig eines der beiden X-Chromosomen ab und ist auch heute noch in vielen Details unverstanden.

Träger von gut tausend Genen

Das X-Chromosom besteht aus 155 Millionen Basenpaaren. Die Forscher identifizierten in dieser Erbgutsequenz 1.098 Gene, die etwa vier Prozent aller menschlichen Gene entsprechen. Obwohl das X-Chromosom damit eher zu den Gen-ärmeren Chromosomen des Menschen gehört, steht es mit einer überproportional großen Anzahl von Erbkrankheiten in Zusammenhang.

Etwa zehn Prozent (307) aller bekannten monogenen – das heißt durch Veränderung eines einzigen Gens hervorgerufenen – Erbkrankheiten werden dem X-Chromosom zugeordnet. Für 168 dieser Erkrankungen ist heute die molekulare Ursache bekannt. Bereits bei mehr als einem Viertel der dafür erforderlichen Forschungsarbeiten war die Verfügbarkeit der Sequenz des X-Chromosoms von großem Nutzen. Für zukünftige Forschungsprojekte wird sie unerlässlich sein.

Besonders bemerkenswert ist, dass auf dem X-Chromosom etwa drei Viertel der Gene gefunden wurden, die normalerweise nur in den männlichen Hoden und im Krankheitsfall in Krebsgeschwüren aktiv sind. Etwa zehn Prozent aller X-chromosomalen Gene gehören zu dieser Gruppe. Das unterstützt die Hypothese, dass sich in der Evolution auf dem X-Chromosom besonders schnell Gene fixieren, die dem Mann einen Selektionsvorteil bieten. Sind diese jedoch mit Nachteilen für den weiblichen Organismus verbunden, beschränkt sich ihre Aktivität auf die Hoden.

Neue Einbblicke in die Evolution

Der in diese Arbeit erstmals mögliche umfassende Vergleich beider Geschlechtschromosomen des Menschen erlaubt neue Einblicke in deren Evolution. Vor rund 300 Millionen Jahren begann eine schrittweise Unterdrückung des genetischen Austausches zwischen den beiden Kopien eines Vorläufer-Chromosoms, der die dramatische Verkleinerung des späteren Y-Chromosoms zur Folge hatte. Für diesen Prozess konnte nun eine bisher unbekannte Etappe identifiziert werden.

Trotzdem finden sich für 54 X-chromosomale Gene noch immer homologe Partner auf dem Y-Chromosom. Weiterhin kann jetzt die Abstammung des X-Chromosoms von einem Nicht-Geschlechtschromosom eindrucksvoll durch einen Vergleich mit Chromosom 4 des Huhns bestätigt werden. Weitere Vergleiche mit Maus, Ratte und Hund deuten darauf hin, dass das menschliche X-Chromosom dem hypothetischen Vorfahren aller Säuger-X-Chromosomen am nächsten kommt.

Die nun nahezu lückenlos verfügbare chromosomale Primärstruktur bekräftigt die Hypothese zur X-Inaktivierung, dass eine bestimmte Art von genomweit sich wiederholenden Sequenzen auf dem X-Chromosom die Funktion von Schaltstationen bei der Ausbreitung des Inaktivierungsprozesses übernommen hat. Diese als LINE1 bezeichneten Elemente sind auf dem X-Chromosom ungewöhnlich häufig und verteilen sich nach einem Muster, das der schrittweisen Unterdrückung der genetischen Rekombination mit dem Y- Chromosom entspricht. Komplementär dazu sind ca. 15% aller X-chromosomalen Gene lokalisiert, die sich auch heute noch der X-Inaktivierung entziehen.

Die jetzt in Nature veröffentlichten Forschungsarbeiten stellen sowohl die zukünftige biomedizinische Forschung zur Genetik X-chromosomaler Erkrankungen, als auch die Arbeiten zu grundlegenden biologischen Fragestellungen, wie X-Inaktivierung und Evolution der Geschlechtschromosomen, auf ein stabiles und verlässliches Fundament.

(Deutsches Krebsforschungszentrum, DLR, NGFN, 18.03.2005 – NPO)

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