Erstmals können Forscher erklären, wie die zelluläre Architektur des Ortsgedächtnisses mit dessen Rolle bei der Orientierung zusammenhängt. In der Fachzeitschrift „Neuron“ präsentieren sie eine neue Technik, mit der sie die Aktivität und Verschaltung einzelner Nervenzellen in freilaufenden Tieren untersucht haben. Diese Methode ermöglichte es ihnen, die Schaltkreise zu identifizieren, mit denen Ratten die räumliche Struktur ihrer Umwelt erfassen und erlernen.
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Welche Zellen in unserem Gehirn wann miteinander kommunizieren, ist bis heute noch weitgehend unverstanden. Denn bisher mussten Wissenschaftler wählen: Entweder untersuchten sie Aufbau und Verknüpfungen, indem sie die Zellen anfärbten oder sie maßen deren Aktivität. Beides gleichzeitig zu erfassen galt besonders bei freilaufenden Tieren als beinahe unmöglich.
Anfärben und Aktivität messen
Nun konnten Professor Michael Brecht vom Nationalen Bernstein Netzwerk Computational Neuroscience und sein Kollege Andrea Burgalossi mit einer neuen Methode diese Probleme lösen. In Zusammenarbeit mit der Technischen Universität Berlin entwickelten sie einen neuen Stabilisierungsmechanismus für die Messelektrode. Er erlaubte ihnen, Zellen im Bereich des Ortsgedächtnisses der Ratte – dem so genannten medialen entorhinalen Kortex – anzufärben und gleichzeitig deren Aktivität zu messen, während die Tiere ihre Umwelt erkundeten.
Anatomische Untersuchungen gaben dann Aufschluss über die Verschaltung der gemessenen Zellen. Mit dieser neuen Methode konnten die Wissenschaftler erstmals die neuronalen Schaltkreise darstellen, die für die räumliche Orientierung verantwortlich sind.
Zwei Zelltypen an Orientierung und Ortsgedächtnis beteiligt
An Orientierung und Ortsgedächtnis sind bei Ratten danach den Wissenschaftlern zufolge zwei Zelltypen hauptsächlich beteiligt. Erkundet ein Tier seine Umgebung, ist ein Teil der Zellen aktiv. Als wäre die gesamte Umgebung mit einem virtuellen Gitter überzogen, sind an jedem der Gitter-Schnittpunkte spezifische Zellen aktiv. Man vermutet, dass die als „Grid-Cells“ oder „Gitter-Zellen“ bezeichneten Zellen eine Art Karte bilden, die es dem Tier erlauben, Entfernungen zu „messen“ oder seine Position im Raum einzuschätzen.
Zellen „spielen“ Kompass
Der andere Zelltyp ist nach Angaben der Forscher dann besonders aktiv, wenn das Tier in eine bestimmte Richtung blickt. Diese Zellen scheinen eine Art Kompass für das Tier zu bilden. Wie die beiden Zelltypen für eine funktionstüchtige Orientierung und räumliches Gedächtnis zusammenarbeiten, war bislang unbekannt.
Brecht und Burgalossi stellten jetzt jedoch fest, dass die funktionsgemäß unterschiedlichen Zelltypen in kleinen Feldern angeordnet und an klar abgegrenzten Stellen angelegt sind. Indem sie die Verbindungen zwischen den beiden Zelltypen darstellten, konnten die Forscher nachvollziehen, wie sie für die Entstehung des Ortsgedächtnisses zusammenarbeiten.
Miniatur-Schaltkreise als neuronale Grundeinheiten?
Die Wissenschaftler fanden heraus, dass die beiden Zelltypen durch ganz gezielte Verbindungen miteinander kommunizieren. Diese könnten es den Tieren erlauben, Informationen über die räumliche Orientierung und die Blickrichtung zu vereinen. Diese Miniatur-Schaltkreise stellen möglicherweise die neuronalen Grundeinheiten dar, die den Orientierungssinn erzeugen. Die Alzheimer-Erkrankung hat in dieser Region des Gehirns ihren Ursprung. Betroffene leiden oft unter anderem an Orientierungslosigkeit.
Erkenntnisse über die Organisation und Verschaltung der Zellen könnten damit auch zum grundlegenden Verständnis der Alzheimer’schen Erkrankung beitragen, so die Wissenschaftler. (Neuron, 2011; doi:10.1016/j.neuron.2011.04.003)
(Nationales Bernstein Netzwerk Computational Neuroscience, 27.05.2011 – DLO)