Es klingt wie aus einem Agentenfilm: 1953, mitten im Kalten Krieg, verlor ein US-Physiker das streng geheime Rezept für die Zündung einer Wasserstoffbombe bei einer Zugfahrt. Er ließ den Umschlag kurz in der Zugtoilette liegen und wenig später war er weg. Wie es zu diesem unglückseligen Vorfall kam und welche Folgen dies hatte, hat nun ein Historiker anhand von kürzlich freigegeben FBI-Akten rekonstruiert.
Das US-Atomprogramm und die aus ihm hervorgehende Entwicklung der Wasserstoffbombe war Anfang der 1950er Jahre eines der am strengsten gehüteten Geheimnisse der USA. Denn zu dieser Zeit wussten nur einige US-Physiker, wie man eine thermonukleare Bombe zünden kann – eine Bombe, deren explosive Energie nicht aus der Kernspaltung, sondern aus der Kernfusion stammt. 1952 demonstrierte ein erster Test im Bikini-Atoll die Machbarkeit dieses von Edward Teller und Stanislaw Ulam entwickelten Designs.
„Der Schlüssel des sogenannten Teller-Ulam-Design bestand darin, dass man die Röntgenstrahlung einer explodierenden Atombombe benötigte, um das Material der Bombe zu extremer Dichte zu komprimieren“, berichtet der Wissenschaftshistoriker Alex Wellerstein vom Stevens Institute of Technology in New Jersey.
Im Nachtzug von Princeton nach Washington DC
Doch im Januar 1953 geschah das Undenkbare: Der US-Physiker Archibald Wheeler ließ ein streng geheimes Dokument über das Design der H-Bombe in einem Nachtzug von Princeton nach Washington DC liegen. Als Mitglied am Wasserstoffbombenprojekt sollte Wheeler den Zündmechanismus in der US-Hauptstadt vor einem Komitee vorstellen und hatte dafür mit Kollegen eine sechsseitige Kurzzusammenfassung des Konzepts zusammengestellt – quasi das Rezept.
Wie es zu dem Verlust des Dokuments kam und welche Folgen dies hatte, hat Wellerstein nun anhand von kürzlich freigegebenen FBI-Akten dieses Vorfalls rekonstruiert. „Ich mag die Absurdität in der Abfolge der Ereignisse“, sagt der Forscher. Die Geschichte begann damit, dass Wheeler die geheimen Dokumente erst in einem weißen Umschlag steckte und diesen dann zusammen mit einem weiteren Geheimdokument in einen Packpapierumschlag verstaute. Diesen legte er in seinen Aktenkoffer.
Im Nachtzug nach Washington las Wheeler die Dokumente noch einmal kurz durch, packte sie wieder ein und stellte dann zum Schlafen seinen Aktenkoffer zwischen sich und die Abteilwand. „Schon das war für ein Geheimdokument ein ziemlich unzureichendes Verfahren“, sagt Wellerstein.
Der fatale Klogang
Doch es kam noch schlimmer: Kurz vor der Ankunft in Washington ging Wheeler mitsamt des Aktenkoffers in den Waschraum, um ihn nicht allein im Abteil zurückzulassen. Weil dort noch zwei andere Männer anwesend waren, nahm Wheeler den Packpapierumschlag mit sich in die Klokabine. „Weil er nichts zum Ablegen fand, klemmte er ihn zwischen einige Rohre und die Wand“, berichtet Wheeler.
Damit nahm das Unheil seinen Lauf: Als Wheeler fertig war, verließ er die Kabine, ohne an den Umschlag zu denken. Erst als schon ein weiterer Zugpassagier diese Toilettenkabine benutzte, fiel ihm ein, dass die Dokumente noch hinter dem Rohr klemmten. „Nach dem Motto ‚Sicherheit vor Etikette‘ kletterte Wheeler auf das Waschbecken und spähte über die Tür in die Kabine hinein“, so Wellerstein. Er konnte den Umschlag nicht sehen, aber sah, dass der Mann auf dem Klo zumindest nichts las.“
Tatsächlich war der Packpapierumschlag noch da, als Wheeler nach Freiwerden der Kabine hineinstürmte. Er kehrte zu seinem Platz im Abteil zurück. „Zweifellos mit einem Seufzer der Erleichterung“, so der Historiker.
Sie sind weg!
Doch Wheeler hatte sich zu früh gefreut: Als er eine halbe Stunde später die Dokumente noch einmal durchgehen wollte, fehlte der zuvor im Packpapierumschlag enthaltene weiße Umschlag mit dem H-Bomben-Rezept. Als eine nochmalige Durchsuchung des Aktenkoffers, der Waschräume und des gesamten Waggons ihn nicht zutage förderte, geriet der Physiker Panik. „Wheeler konnte den FBI-Aufzeichnungen zufolge nur noch unzusammenhängend stammeln“, berichtet Wellerstein.
Was aber war mit dem Umschlag geschehen? In den folgenden Stunden und Tagen ließ das FBI nichts unversucht, um die Dokumente wiederzufinden. Trotz eingehender Verhöre Wheelers, des Schaffners und mehrerer Mitreisender blieb der genaue Hergang jedoch unklar: Hatte Wheeler die Dokumente nach dem Durchlesen vielleicht selbst aus Versehen nicht wieder in den äußeren Umschlag gelegt? Oder hatte sie wirklich jemand gestohlen?
Verschwinden bis heute rätselhaft
Bis heute ist ungeklärt, wo die Dokumente abgeblieben sind. Allerdings finden keine Indizien dafür, dass ein Spion sie entwendet hat. „Das wäre zwar weitaus aufregender, aber es gibt keinerlei Belege dafür“, sagt Wellerstein. „Es wäre für einen Agenten auch eher merkwürdig, nur eines der beiden Geheimdokumente im Umschlag mitzunehmen.“ Zudem gebe es auch aus Russland keine Hinweise darauf, dass diese Informationen damals von einem Agenten erbeutet wurden.
Dennoch trug dieses Ereignis dazu bei, die Paranoia der US-Behörden zu dieser Zeit weiter zu schüren. Archibald Wheeler allerdings, der Unglücksrabe, der all dies in Gang gesetzt hatte, kam mit einer Verwarnung davon: „Er war als Wissenschaftler einfach zu wertvoll“, sagt Wellerstein. „Man konnte es sich nicht leisten ihn zu bestrafen, ohne dem US-Atomprogamm zu schaden.“ (Physics Today, 2019; doi: 10.1063/PT.3.4364)
Quelle: American Institute of Physics (AIP)