Quelle eingegrenzt: Im Herbst 2017 zog eine Wolke radioaktives Ruthenium-106 über Europa hinweg. Jetzt haben Forscher die Quelle dieser Kontamination näher bestimmt. Demnach stammt das Ruthenium wahrscheinlich doch aus der russischen Wiederaufbereitungsanlage Mayak – was Russland bislang abgestritten hat. Neue Analysen erhärten nun jedoch den Verdacht. Das Ruthenium muss demnach bei der Prozessierung von relativ frischen Brennstäben freigesetzt worden sein.
Ende September 2017 schlugen Messstellen in vielen Ländern Europas Alarm: Sie hatten radioaktives Ruthenium-106 in der Luft registriert. Dieses Radionuklid mit der Halbwertszeit von 372 Tagen kommt natürlicherweise nicht in der Atmosphäre vor, es kann aber bei einem Atomunfall oder eine Atombombenexplosion freigesetzt werden. Im Herbst 2017 stiegen die Konzentrationen von Ruthenium-106 an einigen Messstellen kurzzeitig auf Werte von bis zu 176 Millibecquerel pro Kubikmeter Luft – kein gesundheitsschädlicher Wert, aber seit Tschernobyl der höchste je über Europa gemessene.
Keiner will es gewesen sein
Was aber war die Quelle dieser radioaktiven Rutheniumwolke? „Niemand berichtete damals über einen Atomunfall und kein Mitgliedsstaat der internationalen Atomenergieagentur (IAEA) gab zu, irgendetwas über eine mögliche Quelle zu wissen“, berichten Georg Steinhauser von der Universität Hannover und seine Kollegen. Schon damals vermuteten die Wissenschaftler jedoch aufgrund der Verteilung der Messwerte, dass die Quelle des Rutheniums irgendwo im südlichen Ural liegen könnte, möglicherweise in der russischen Wiederaufbereitungsanlage Mayak.
„Russische Offizielle erklärten damals jedoch, dass Mayak nicht die Quelle sein könne, weil man im Boden rund um die Anlage keine Radioruthenium-Spuren gefunden habe“, so Steinhauser und sein Team. „Stattdessen wiesen die Offiziellen darauf hin, dass auch die Radionuklid-Batterie eines beim Eintritt in die Atmosphäre verglühten Satelliten die Quelle sein könnte.“
Um der Ursache der Rutheniumwolke auf den Grund zu gehen, haben die Forscher seither mehr als 1.300 Messwerte von 179 Messstationen in ganz Europa noch einmal detailliert ausgewertet.
Ein Satellitenreaktor war es nicht
Das Ergebnis: Entgegen den russischen Erklärungen stammt das radioaktive Ruthenium nicht von einem Satelliten. „Wenn ein Satellit beim Wiedereintritt verglüht wäre, hätte dies zu einer vertikalen Verteilung des Rutheniums-106 in der Luft geführt: Je größer die Höhe, desto höher die Konzentration“, erklären Steinhauser und sein Team. Doch Messstationen in größeren Höhenlagen, wie beispielsweise auf der Zugspitze, registrierten nur geringe Werte.
Angesichts der freigesetzten Menge kommt nach Angaben der Forscher auch die Verbrennung einer medizinischen oder technischen Radionuklidquelle nicht als Ursache in Frage. Denn ihren Berechnungen nach müssen an der Quelle rund 250 Terabecquerel auf einmal freigesetzt worden sein. Dies ist mehr als zwei Größenordnungen über dem von solchen Quellen möglichen. Selbst Pannen in Wiederaufbereitungsanlagen von Windscale in Großbritannien und La Hague in Frankreich setzten nur rund 0,37 Terabecquerel beziehungsweise 0,05 Terabquerel an Ruthenium-106 frei, wie die Forscher berichten.
Kein Kernreaktor, sondern eine Wiederaufbereitungsanlage
Um mehr Aufschluss über die mögliche Quelle zu gewinnen, suchten die Wissenschaftler auch nach weiteren Radionukliden in den radioaktiven Luftproben. Denn wäre ein Unfall in einem Atomkraftwerk die Ursache, müssten sich neben dem Ruthenium-106 auch Spuren anderer Spaltprodukte wie Americium, Cäsium oder Strontium in der Luft nachweisen lassen. Doch das war nicht der Fall, wie die Wissenschaftler berichten.
„Das schließt die versehentliche Freisetzung aus einem Kernreaktor als Quelle aus, weil dies zur Emission einer großen Zahl von Spaltproduktion geführt hätte“, konstatieren Steinhauser und sein Team. Stattdessen sprechen die Messungen eher dafür, dass das Ruthenium bei der Wiederaufbereitung von Kernbrennstoffen freigesetzt wurde.
Aus dem südlichen Ural
Aber wo? Die Neuanalyse bestätigt, dass die radioaktive Ruthenium-Wolke aus der Gegend des südlichen Urals über Europa geweht wurde. Indiz dafür ist vor allem die Tatsache, dass Messstellen in Rumänien die höchsten und frühesten Kontaminationen detektierten, wie die Forscher berichten. Aus den Wetterbedingungen Ende September 2017 schließen sie, dass die kontaminierten Luftmassen zuvor das Gebiet der russischen Wiederaufbereitungsanlage von Mayak überquert haben müssen.
„Die Detektion der Ruthenium-Wolke im rumänischen Zimnicea am 30. September 2017 deutet auf eine Freisetzung in Mayak zwischen dem 25.September um 18:00 Uhr abends und dem 26. September mittags hin“, berichten Steinhauser und sein Team. Bodenproben im Umfeld von Mayak, das ein französisches Team im Dezember 2017 genommen hat, wiesen entgegen den Angaben der russischen Behörden auf eine erhöhte Ruthenium-Kontamination westlich der Anlage hin.
Ruthenium aus jungen Brennstäben
Und noch ein Indiz gibt es: Aus dem Anteil eines zweiten Ruthenium-Isotops, dem Ruthenium-103, in der kontaminierten Luft konnten die Forscher Rückschlüsse darauf ziehen, wie alt die Brennstäbe zum Zeitpunkt des Unfalls gewesen sein müssen. Demnach stammt das Radionuklid aus relativ jungen Brennstäben, die noch zwei Jahre zuvor in einem Reaktorkern aktiv gewesen sein müssen. Gleichzeitig jedoch wurde das Ruthenium eher am Ende des Wiederaufbereitungsprozesses freigesetzt.
Das aber bedeutet: Die Brennstäbe wurden schon nach ungewöhnlich kürzer Abklingzeit weiterverarbeitet. „Westliche Wiederaufbereitungsanlagen wie La Hague beginnen erst nach mindestens vier oder sogar zehn Jahren mit der Verarbeitung“, berichten Steinhauser und sein Team. Eine so kurze Wartezeit könnte darauf hindeuten, dass man auf eine möglichst hohe Ausbeute von Cerium-144 aus war. Cerium-144 jedoch ist ein Radionuklid, das bekanntermaßen von Mayak an den Neutrinodetektor Borexino im Gran-Sasso-Laboratorium geliefert worden ist.
Freigesetzt bei der Produktion von Cerium-144?
Auffallend auch: „Der Auftrag zur Lieferung des Cerium-144 wurde von der Anlage in Mayak storniert, kurz nachdem die Freisetzung des Rutheniums Aufmerksamkeit erregt hatte“, berichten die Forscher. Zwar können ihre Analysen den Zusammenhang zwischen der Ruthenium-Freisetzung und der Cerium-144-Produuktion in Mayak nicht eindeutig belegen. Dennoch halten Steinhauser und sein Team es für durchaus wahrscheinlich, dass ein Unfall bei diesem Prozess zur Freisetzung der radioaktiven Wolke aus Mayak geführt hat.
Auch wenn die Kontamination für die europäische Bevölkerung nicht gesundheitsschädlich war, war sie doch erheblich: „Die Messungen deuten darauf hin, dass dies die größte je gemessene Einzelfreisetzung von Radioaktivität aus einer zivilen Anlage war“, sagt Steinhauser. „Und auch wenn es zurzeit kein offizielles Statement dazu gibt, haben wir eine recht gute Idee, was passiert sein könnte.“ (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2019; doi: 10.1073/pnas.1907571116)
https://www.pnas.org/cgi/doi/10.1073/pnas.1907571116
Quelle: PNAS, TU Wien